Segeln

Es war nur einmal alle zwei Jahre und dieses Jahr wieder soweit: Das große Gleitsegel Rennen.

Die Berge bei Evimoor.

Es fand an dem großen Hang nahe Evimount statt und zahlreiche Besucher aus der ganzen Gemeinde Evimoor würden wieder daran teilnehmen. Eine Besonderheit sollte es dieses Jahr geben, eine die noch mehr Teilnehmer anlocken würde: Es gab zum ersten Mal in der weit zurückreichenden Geschichte des Evimoor Rennens nicht nur einen Pokal, sondern auch ein hohes Preisgeld!

Edward, seines Zeichens Besitzer einiger Ländereien im Umkreis Evimoors, strich die Zeitung glatt. Verträumt schaute er hinüber zu den Pokalen. Dutzende von ihnen standen auf dem eigens für sie angebrachten Regalbrett. An manchen hatte sich der Staub häuslich eingerichtet und kleine Verwaltungskreise geründet. Mancher Staub war sogar schon im Begriff, das Finanzamt und Steuerhinterziehung zu erfinden. Man unterschätzt ihn, den Staub.

In den letzten Jahren waren keine Pokale hinzugekommen, eine Tatsache, die Edward in eine gewisse Laune versetzte. Seine Frau war beruflich in Skandinavien, in einer hochangesehenen Forschungseinrichtung. Diese bestand aus einer Herberge mit Labor, am Rande eines winzigen Fischerdorfes. Dort gab es nichts Interessantes, aber als überzeugte Meeresbiologin hielt sie das nicht davon ab, Wasserproben zu nehmen. Den ganzen Tag lang. Sie hatte Spaß.

Die Kinder hatten sich längst in verschiedenen Städte Englands verteilt, zum Studieren. Eigentlich optimale Voraussetzungen, fand Edward.

Die Sonne beschien das Gebälk durch ein schmutziges, kleines Fenster und tauchte den alten Segler in goldenes Licht. Golden, so wie die Pokale auf dem Regal. Mit leuchtenden Augen stand Edward auf dem Dachboden und betrachtete die Schnüre und Ziehvorrichtungen, den aufgerollten Stoff. Ein prachtvolles Modell, trotz der ausgeblichenen Farbe.

Zwei Stunden später lag der Segler im Hof und Edward versiegelte einen kleinen Umschlag, der sein ausgefülltes Teilnahme Formular enthielt. Die nächsten Tage übte er, so lange, bis aus den Tagen Wochen wurden.

In der Stadt hatte er sich neue Schnüre und Ösen gekauft, nachdem bei einem Flug diverse elementare Dinge gerissen waren. Zum Glück war alles gut ausgegangen. Fand er. Und auch der überraschte Baum, in dem er gelandet war. Hierbei sei gesagt, dass Edward nicht mehr der Jüngste war. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich nicht weiter verletzt hatte. Doch die Gewissheit, dass ihm weder seine Frau noch seine Kinder den ganzen Spaß erlauben würden, stacheltet ihn weiter an.

Er beeilte sich mit der Hofarbeit, und wenn die Sonne schon tief am Himmel stand sah man ihn über die Felder und Hügel segeln. In der Gemeinde war seine angekündigte Teilnahme derweil auf großes Hallo gestoßen, auch wenn böse Zungen meinten, er wäre zu alt und die ganze Sache wäre vollkommen wahnsinnig. Edward störte das wenig, vielleicht ein wenig zu wenig, denn er Verkündete etwa Folgendes: Er wolle das Rennen nicht nur mitmachen, sondern auch gleich gewinnen.

So wäre alles gut gegangen. Aber es war ein Maulwurfshügel, der nun unserer Geschichte eine entscheidende Wendung gibt: Zuerst war Edward nur gestolpert, doch als der Fuß am nächsten Tag immer noch wehtat, schöpfte er Verdacht. Auch am nächsten Tag war keine Besserung zu verzeichnen. Das Wettrennen rückte näher. Tag und Nacht dachte er nach. So konnte er auf keinen Fall an dem Rennen Teilnehmen. Dann waren es nur noch zwei Tage bis zum großen Tag. Am letzten Morgen kam ihm schließlich die rettende Idee: Mola!

Er humpelte mit seinem immer noch schmerzenden Fuß durch die taufrische Wiese auf den Stall zu. Es war etwas kompliziert, doch mit gutem Zureden funktionierte es. Zumindest in gewissem Maße.

Er passte einige der Schnüre an, und bastelte eine zusätzliche Halterung. Aus dem Wohnzimmer holte er die große Luftaufnahme, die er vor Jahren selbst gemacht hatte. Den rest des Tages verbrachte er im Stall, zeichnete mit Kreide Skizzen auf den Boden und übertrug die Route auf eine Landkarte. Erst als die Sonne schon tief am Himmel stand, klappte er das kleine Segel Einmaleins zu und verließ den Stall.

Dann war er da – der große Tag. Langsam trieb die aufgehende Sonne den Schatten zurück und tauchte den großen Hang in glitzerndes Licht. Eine Zuschauertribüne gab es, eine Bühne mit Rednerpult und jede Menge Fahnen. Die umliegenden Felder hatten sich vorrübergehend in Parkplätze verwandelt und die ersten Besucher und Teilnehmer fanden sich munter und laut redend ein. Um 11 Uhr schallten die Klänge des Stadtorchesters durch die Luft und der Bürgermeister hielt eine Ansprache vor den vielen Besuchern. Auch Edward hatte es gerade so pünktlich geschafft. Weiter oben machten sich die Kandidaten Flugfertig. Der Segler von Edward mit der Startnummer 9 war etwas abseits von den anderen, und offensichtlich war er in Begleitung. In der Ferne konnte man aber nichts Näheres erkennen. Dann fiel der Startschuss.

Es war ein rasantes Rennen, einmal um das gesamte Tal herum. Und als die vielen bunten Segler nach der Runde wieder auf die Zuschauer zuflogen, war man überrascht: Der rote Schirm von Edward war an der Spitze! Gemurmel machte sich breit und als die Flieger über sie hinweg glitten bemerkte niemand etwas. Dann war es vorbei und Edward hatte tatsächlich gewonnen. Der rote Schirm landete und alle liefen auf ihn zu. Doch da war kein Edward, stattdessen blickte die Verwunderte Menge auf ein Schaf hinab,genauer gesagt auf ein Schaf mit Flugbrille, Helm und Bomberjacke. „Das gibt`s doch wohl nicht!“ hörte man es vereinzelt rufen. „Das ist ja Betrug! Betrug beim Evimoor Rennen!“. Dann kam auch die Jury hinzu und Bürgermeister Popkin beruhigte die aufgebrachte Menge. „Meine Damen und Herren“ verkündete er, „Dieses Schaf ist dieses Jahr kein Einzelfall. Wenn Sie sich umschauen würden“ – er deutete hinter sich. Tatsächlich. Da standen, zwischen den anderen Teilnehmern, nicht weniger als Zwölf Schafe. Allesamt mit Flugbrillen und Gleitschirmen. Jetzt waren die Leute vollends verwirrt. Dann kam Edward hinzu. „Was gibt es denn?“ fragte er unschuldig. Alle redeten durcheinander, bis sich Bürgermeister Popkin erneut Ruhe verschaffte. „Man spricht von Betrug beim Evimoor Rennen“ sagte er. „Doch leider, beruhigen Sie sich meine Damen und Herren, haben wir beim Zurate ziehen des Regelwerks festgestellt, dass wir gar kein Regelwerk besitzen. Wir sind eine Dorfgemeinde und als solche ein wenig unprofessionell. Das Teilnehmen von Schafen ist daher zwar irgendwie nicht erlaubt, aber genauso wenig verboten.“ Alle waren still, bis jemand sagte: „Wissen Sie, vor zwei Jahren bin ich ja auch noch selbstständig mitgeflogen. Aber man muss mit der Zeit gehen, und Schafe haben Aerodynamisch einfach gewaltige Vorteile. Ich finde, dass Edward der rechtmäßige Sieger ist.“

„Ja“ sagte ein anderer. „Er hatte schließlich das schnellste Schaf.“

Darüber waren die Zuschauer geteilter Meinung. Das merkte auch die Jury um Bürgermeister Popkin. Sie zog sich zur Beratung zurück. Kurz darauf versammelte sich die heftig diskutierende Menge vor der Bühne, zur Siegerehrung. Da erhob der Bürgermeister das Wort: „Meine Damen und Herren! Dieses Rennen ist gewiss ungewöhnlich verlaufen, doch möchten wir uns den gegebenen Umständen anpassen. Ich möchte, für den ersten Platz, Edward Seling auf die Bühne bitten!“ Unter gemischtem Applaus trat dieser auf. „Aus gegeben Umständen“ fuhr der Bürgermeister fort, „möchten wir das versprochene Preisgeld allerdings anpassen.“ Dann überreichte er Edward den Pokal, und schließlich jubelte die Menge doch noch ausgelassen: Anstatt des Preisgeldes bekam er einen großen Ballen Heu überreicht. Mit Schleife drum.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar zu Claudia Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert