Nuwo Teil 1: Der Raum

Nuwo war sehr gebildet. Übermäßig intelligent. Er wusste gar nicht, was er mit der ganzen Schlauheit anfangen sollte. Er war gerade erst 30 geworden, doch hatte er bereits ein ziemlich großes Haus, welches er sein Eigen nannte. Es musste so groß sein, damit die Schlauheit mit hineinpasste.

Das Puzzle.

Er puzzelte gerne. Zumeist sehr schwierige Puzzles. Um seine Werke anschließend vorzuführen, veranstaltete er Puzzle-Events in seinem Anwesen. Bei solch einer Gelegenheit traf sich die die high-society in seinem beachtlichen Salon, aß Kaviar mit Löffeln aus der Dose und erfreute sich an finanzieller Unabhängigkeit. So war es auch an jenem Tag im November, der den Beginn unserer kleinen Geschichte darstellt.

Regentropfen verzierten wie Perlen die Teuren Autos in der langen Hofeinfahrt. Jene, die sich selbst als Gentlemen bezeichnen, geleiteten ihre Begleitung mit aufgespanntem Schirm zum Eingang des Hauses. Andere versammelten sich vorerst an Heizpilzen und versuchten nasse Zigaretten anzuzünden. Eine Katze saß an der Tür und beobachtete sie mäßig interessiert.

Drinnen war ausgelassene Stimmung. Wenig später erklang ein Klingeln, so leise, dass man es nicht hören konnte. Gerade das war der Grund dafür, dass die Leute fast schlagartig verstummten. Die Stille knisterte. Nuwo war in der Lage, einen Löffel so fein mit dünnem Glas kollidieren zu lassen, wie es niemand sonst konnte. Der Effekt war stets beeindruckend. Die Aufmerksamkeit zog wie ein Windhauch auf die verhüllte Staffelei zu, an der Nuwo stand.  

Dann begann die traditionelle Zeremonie:

Sein Manager Kolbig betrat den Raum. „Sir, das wievielte Teil ist jenes?“ fragte er in gedruckten Worten und einem Gesichtsausdruck, der im Protokoll stand.

Nuwo rückte sein Jackett zurecht – ein unverzichtbarer Teil der Zeremonie. „Das erste der vielen.“ Antwortete er.

Die Zuschauer hörten gebannt zu, jedes Wort wurde staunend zur Kenntnis genommen.

„Sir,“ fuhr Manager Klobig fort, „welches ist dann jenes Teil?“

„Das letzte der vielen“ erwiderte Nuwo, lüftete elegant den roten Samt über der Staffelei und präsentierte das neuste Puzzle.

Das war das Highlight des Abends. Am Buffet fiel Jemand vor Aufregung in Ohnmacht. Man war sich einig darüber, einem Meisterwerk gegenüber zu stehen.

Dann ging die Musik wieder an, die festliche Beleuchtung erhellte wieder den Raum und jeder redete und fachsimpelte. Wie immer.

Dann wurde es spät, die Gäste verabschiedeten sich auf umständlich oberflächliche Art und fuhren in die schwarze Nacht. Zurück blieben nur Nuwo und sein Manager Kolbig.

„Ein hervorragender Abend, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“ sagte Manager Kolbig.

„Natürlich gestatte ich diese Bemerkung. Ich stimme ihr sogar zu.“

Dann folgte Stille. Stille, die auf Nuwos Ohren trommelte. Er schüttelte sich, doch die Stille trommelte weiter, immer lauter. Dann hielt er es nicht mehr aus: „Ich habe ein Problem“ sagte er.

„Oh,“ sagte Manager Kolbig. „Kann ich ihnen dabei helfen?“

Nuwo schwieg. Dann fasste er einen Entschluss. „Ich zeige es Ihnen.“

Er drehte sich auf dem Absatz, der Manager folgte ihm. Sie schritten durch das große Anwesen, durchquerten Zimmer und Flure. Dann standen sie in einem kleinen Raum. „Hier war ich erst einmal, wenn ich mich richtig erinnere.“ sagte Manager Kolbig. Nuwo nickte.

„Siehst du die Tür?“. Der Manager schaute in die Richtung. Und dann sah er sie tatsächlich: In der Wand war eine Tür, so unauffällig eingepasst, dass man sie kaum bemerkte. „Ein Puzzleteil“ platzte es aus ihm heraus. Nuwo nickte erneut. „Deswegen ist Sie Ihnen das letzte Mal nicht aufgefallen.“

Er öffnete die Tür. Dahinter war eine Treppe, die sich in Form einer Spirale nach oben schlängelte. Nuwo ging voraus, ungewöhnlich schnell. Auch der Manager bemerkte, wie er die Treppe in überraschendem Tempo emporgezogen wurde. Dann endeten die Stufen abrupt und er fand sich in der Mitte eines weitläufigen Raumes mit hohen Fenstern wieder. Dunkle Nacht und Mondlicht fielen durch sie hinein. Von der Hohen Decke hingen Stahlseile herunter, an deren unteren Enden kleine Schaukeln oder Trittstufen befestigt waren. Dann bemerkte er, dass Nuwo wenige Meter vor ihm auf zwei jener Trittschaukeln über dem Boden schwebte. Er deutete nach unten und der Manager folgte der Geste mit seinem Blick. Und dann sah er es: Der Boden des Raumes war nicht gefliest, wie der Rest der Villa. Nein, stattdessen erstreckte sich ein gewaltiges Puzzle von der einen Wand zur anderen. Es verschlug ihm die Sprache.

Nuwo bedeutete Ihm, mitzukommen. Er tänzelte über die Trittschaukeln hinweg, hinüber zu einer der Ecken. Wie von einem Windhauch bewegt schaukelten die Drahtseile leicht, als er an Ihnen vorbeilief. Vorsichtig kletterte der Manager hinterher. Er hatte sichtliche Schwierigkeiten damit, Gleichgewicht zu halten. Er klammerte sich an den Seilen fest und fiel beinahe hin. Nuwo bereitete es keine Schwierigkeiten: Er stand auf den Trittschaukeln wie auf festem Boden. Er musste viel Zeit auf ihnen verbracht haben, dachte der Manager. Und dann wurde ihm etwas bewusst: Wenn Nuwo alle diese Teile zusammengepuzzelt hatte – ein gewisser Respekt überkam ihn.

Dann erreichte er endlich schwankend die Ecke.

„1.081.081 Teile“ sagte Nuwo. Der Manager sah ihn mit offenem Mund an.

„Ich wusste nicht, dass Sie..“ Nuwo unterbrach Ihn: „Natürlich nicht. Es ist auch kein gewöhnliches Puzzle. Ich bin es, den Sie hier sehen. Und jetzt sehen Sie nur.“ Er deutete auf den Boden in der Ecke. Dort schimmerte etwas.

„Was ist das?“ fragte der Manager. Nuwo sah ihn an. „Ich weiß es nicht. Weil ich nicht weiß, was dort hingehört. Es fehlt. Es ist das letzte Teil und es fehlt.“

Er holte tief Luft. „Ich habe alle 1.081.081 Teile zusammengesetzt. Aber es ist nicht komplett, wenn das 1.081.082te fehlt.“

Der Manager schaute über den Raum. Die kleinen Teilchen glitzerten im Mondlicht.

Nach einer Weile gingen Sie zurück zur Wendeltreppe. Nuwo flink, der Manager wackelnd. Schweigend gingen Sie zurück. Als Sie wieder im Salon waren, schlug Nuwo den Weg zu seinem privaten Wohnzimmer ein, doch der Manager hielt Ihn zurück. „Wir finden das Teil. Irgendwo muss es sein.“

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