Die Bürgerversammlung

Lago Rettich saß in einer Bürgerversammlung. Herr Plottmann betrat die Bühne. Jeder kannte ihn, denn er grüßte am häufigsten von allen. Er räusperte sich und im Saal wurde es still. 

Lago Rettich saß in einer Bürgerversammlung.

„Für jene, die mich nicht kennen – mein Name ist Plottmann. Ich leite seit 25 Jahren unsere Bürgerversammlung wohlinformierter Bürger in der wir in wohlinformierter Gesellschaft über die wichtigeren Fragen unserer Stadt beraten.“

Jemand klatschte in die Stille hinein, bis demjenigen mittgeteilt wurde, dass das gerade unangebracht sei. Herr Plottmann fuhr fort: „Ich möchte mich gleich zu Beginn bei der Firma Klöbbel bedanken, die uns dieses Jahr die leckeren Häppchen im Foyer gestiftet hat.“

Höflicher Beifall erklang und Herr Klöbbel fühlte sich wie ein König. Auch Lago Rettich klatschte mit, als sich sein Sitznachbar zu ihm herüber neigte und brummte: „Die Häppchen dies Jahr waren wirklich gut. Feinste Häppchen, ganz so wie ich sie mag.“

Der Mann trug eine rote Krawatte, auf der gelbe Käsewürfel abgebildet waren. Lago blickte verwirrt auf das gewagte Accessoire und nickte dann höflich, in der Hoffnung der Mann mit der Käsewürfelkrawatte würde sich nun wieder nach vorne wenden und ihn in Ruhe lassen. Doch damit hatte er sich geirrt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Mann nun einen Käse-Weintrauben-Spieß aus der Innentasche seines Anzuges hervor kramte und voller Stolz zeigte. 

„Den hab ich mir eingesteckt, falls ich zwischendurch Hunger bekomme. Konnte einfach nicht widerstehen.“

Lago war zutiefst beunruhigt und lächelte unbeholfen. Der Mann griff jetzt in seine andere Tasche und zog einen einzelnen, unverpackten Käsewürfel daraus hervor. „Der ist mir eben am Buffet auf den Boden gefallen, da hab ich ihn auch gleich eingesteckt.“

Lago bekam langsam Angst vor dem Mann und versuchte, mit seinem Stuhl möglichst unauffällig ein wenig von ihm weg zu rücken. Glücklicherweise ging die Ansprache von Herrn Plottmann in diesem Moment weiter. 

„Der Ablauf, meine Damen und Herren: Herr Ulenbreit stellt die Sachlage zum Kreisverkehr vor, Dr. Schloppel erläutert uns dazu seine fachliche Einschätzung. Vorab darf ich allerdings Frau Lirmacher aus der Schweiz auf die Bühne bitten, die uns etwas zum Käse erzählt!“

Applaus. Lago sah, wie Plottmann die Bühne verließ um eine Frau in traditioneller Kleidung zum Rednerpult zu geleiteten. 

„Über was für Käse denn?“ murmelte Lago mehr zu sich selbst und zuckte zusammen, als sich sein Sitznachbar mit der Krawatte wieder zu ihm herüber neigte. „Das ist die Alleinerbin der Käserei Manufaktur Zahmsee, Frau Lirmacher. Darum bin ich hier, ich bin gewissermaßen Fan. Man kennt sie unter Käsekennern.“ 

Lago lehnte sich nach links von dem Mann weg, während dieser beim Reden den Käsewürfel aus seiner Tasche langsam zwischen den Fingern drehte. 

Während Frau Lirmacher ihren Vortrag hielt, neigte sich der Mann mit Käsewürfel-Krawatte immer wieder zu Lago und sagte Dinge wie: „Ja, die Struktur an den Schnittkanten ist streifig, eine Einmaligkeit, durch welche der Lirmacher-Käse immer noch unerreicht bleibt!“ und „Ich sammle Käse müssen sie wissen.“

Lago wachte erst wieder aus seinen Gedanken auf, als Beifall ertönte. Sein Sitznachbar klatschte besonders laut, wobei sein Jacket umher rutschte und unglücklicherweise der Käsewürfel zu Boden fiel. Lago machte den Mann vorsichtig darauf aufmerksam. Der Mann hörte sofort auf zu applaudieren: „Ach nein, wie ärgerlich!“, brummte er, rutschte mit seinem Stuhl zurück und beugte sich nach vorne um den Boden nach dem verloren gegangenen Käsewürfel abzusuchen.

Ulenbreit betrat die Bühne. Lago sah interessiert auf und versuchte seinen Sitznachbarn zu ignorieren, der jetzt kopfüber von seinem Stuhl hing und den Boden abtastete. Schließlich fragte jemand aus der Reihe vor ihnen, was denn los sei.

„Mir ist der Käse aus der Tasche gefallen“ erklang es dumpf und unverständlich von unten.

„Ihm ist sein Käsewürfel herunter gefallen“, wiederholte Lago zum Verständnis, doch die Person hatte sich schon wieder abgewandt, denn Ulenbreit hatte zu sprechen begonnen: 

„Als wohlinformierte Bürger wissen sie sicher, dass es um die Kreuzung von Schirmstraße und Henkelweg geht. Um einen besseren Verkehrsfluss zu ermöglichen, wurde vor vier Jahren der Bau eines Kreisverkehres beschlossen, dessen tatsächlicher Bau sich aber, wie sie alle wissen, aus wichtigen Gründen bis Heute hinauszögert hat! Mitglieder der Initiative für belanglose Angelegenheiten haben zurecht angemerkt, dass ein runder Kreisverkehr unter Umständen nicht die beste Lösung für unser Budget ist. Nun stehen folgende Alternativen im Raum.“

Er deute zu einer große Konzeptzeichnung an der Wand, auf der neben einem runden Kreisverkehr auch ein drei- und viereckiges Modell abgebildet waren. Ein interessiertes Murmeln hob an, doch Ulenbreit fuhr fort: 

„Das Modell mit drei Ecken erlaubt dem abbiegenden Verkehrsteilnehmer eine gute Übersicht, da der Winkel der Kanten mit den auftreffenden Fahrbahnen harmoniert. Bei Bedarf kann er auch nachträglich noch um eine vierte Ecke erweitert werden, womit wir bei dem Modell daneben sind“, sprach er und deutete auf den viereckigen Kreisverkehr. 

Die wohlinformierten Bürger nickten nachdenklich, manche machten sich Notizen. Dann zitierte Ulenbreit Bauingenieur Dr. Schloppel auf die Bühne.

Dr. Schloppel trug einen gemusterten Anzug und nickte vornehm in die Runde: „Guten Abend“, sagte er, „bevor wir miteinander diskutieren, möchte ich kurz die Sachlage und den Fall klären.“

„In Zusammenarbeit mit der Straßenbaufirma Streffel haben wir herausgefunden, dass sich der Preis von Kreisverkehren aus den enthaltenen Ecken ergibt. Dabei ist ein genormten Betrag pro Ecke festgeschrieben. Da ein echter Kreis 365 Grad hat und somit aus 365 Ecken besteht, ist der Bau eines drei- oder viereckigen Kreisverkehres eine wahrlich kostengünstige Alternative, die überdies noch weitere Vorteile in sich birgt.“

Als er endete, begannen die Versammelten eifrig zu diskutieren. Lago sah sich um und bemerkte den Mann mit Käsewürfelkrawatte, der gerade wieder unter den Sitzen auftauchte und sich aufrecht hinsetzte, wobei nun der Käsespieß zu Boden fiel. Panisch versuchte der Mann, den Spieß aufzufangen, doch dabei schlug er nur ungeschickt dagegen. Der Käsespieß landete einige Meter weiter im Gang, wo er beinahe im gleichen Moment von einem polierten, schwarzen Schuh zerdrückt wurde. 

Der Mann mit Käsewürfelkrawatte sackte kummervoll auf seinem Stuhl zusammen: „Jetz’ is alles verloren“, stöhnte er. 

Ringsherum war es laut und alle sprachen durcheinander. Erstaunlicherweise dauerte es nicht lange, bis sich die Unruhe legte und eine einheitliche Meinung entstand. Als es ruhig war, stand jemand auf und wandte sich an Ulenbreit und Schloppel, die auf der Bühne standen: „Wie Herr Dr. Schloppel eben meinte, bemisst sich der Preis an der Anzahl der Ecken“, sagte der stehende, wohlinformierte Bürger, „so liegt das Ergebnis ja auf der Hand, wir wollen ein Ein-Eckiges Modell!“

Lago saß fassungslos in seinem Stuhl, während Dr. Schloppel den Anwesenden erklärte, dass so etwas technisch nicht möglich sei. Als er den Vorschlag eines Zwei-Eckigen Kreisverkehres ebenfalls ablehnte, war die Enttäuschung so groß, dass einer der Bürger auf die Bühne sprang und verkündete, dass er in diesem Falle einer Ampel den Vorzug gäbe. 

Die Menge stimmte ihm zu, als Ulenbreit das Wort ergriff: „Meine Damen und Herren, ich muss doch sehr bitten! Eine Ampel ist viel teurer und hindert den Verkehrsfluss in höchstem Maße!“

„Was ist denn daran so teuer?“ fragte einer der wohlinformierten Bürger. Nun trat Dr. Schloppel wieder in den Vordergrund: „Im Rahmen unserer Studie haben wir die Ampel nicht außenvorgelassen und herausgefunden, dass sich bei einer solchen Lichtsignalanlage der Preis nicht an den Ecken, sondern an der Farbe der Leuchten bemisst.“

Er zog eine Tabelle aus seiner Tasche: „Üblicherweise werden die drei Farben Rot, Orange und Grün verwendet. Teuer ist dabei vor allem das Grün, das im Verhältnis schwer zu Buche schlägt. Am günstigsten ist Blau, danach kommt Rot gefolgt von Lila.“

Daraufhin wurde noch lauter diskutiert als zuvor. Nachdem Dr. Schloppel erklärt hatte, das Blau verboten sei, einigten sich die wohlinformierten Bürger auf eine Ampelanlage, die ausschließlich die Farbe Rot zeigen könne. 

Lago blickte umher und gab seinem Sitznachbarn stumm Recht: „Jetz‘ is alles verloren.“

Ein Kommentar

  1. Als ehemaliger Gemeindevertreter kann ich mich -leider- an einige Situationen und Diskussionen erinnern, die ähnlich sinnhaft waren.
    Nett geschrieben

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