Bruno Colais ist Kohlearbeiter. Genauer gesagt ist er Untergebener von Aufsichtsrat Schobel, der für Qualitätssicherung verantwortlich ist. Schobel weist häufig darauf hin, wie wichtig seine Arbeit ist. Bruno Colais bewacht also während seiner Schicht die Kohleschienen und gibt am Ende einen Bericht an Aufsichtsrat Schobel. Der liest dann den Bericht, um alles zu prüfen. Er prüft sehr viel. Einmal hat er aus Versehen ein ganzes Land geprüft. Egal.

Bruno Colais steht also an den Schienen. An ihm vorbei fahren kleine Loren, die Kohle aus dem Bergwerk hinausbefördern. Bruno Colais passt dabei auf, dass keine Kohle verloren geht. Das ist nämlich so eine Sache: Die Kohle ist von Natur aus ein sehr druckbedürftiges Wesen. Ohne Druck fühlt sie sich unwohl, wird ganz hektisch. Wenn diese Kohle jetzt also merkt, dass sie aus dem Gestein gehackt wird, ist sie erst einmal sehr aus dem Häuschen. Sie findet sich kurz darauf in einer der Loren wieder. Sobald sie dann spürt, dass Sie auf dem Weg ist das Bergwerk zu verlassen, wird sie Übermütig: So passiert es, dass sie aus der Lore springt. Auf diese Weise springt immer etwas Kohle aus der Lore, und oben am Eingang der Mine kommt immer zu wenig an. Zumindest weniger, als unten hinein geschaufelt wurde.
Deswegen steht Bruno auf halber Strecke im Schacht und beobachtet die Loren. Wenn er sieht, dass welche herausspringt, notiert er das im Protokoll. Aufheben darf er die Kohle nicht, dafür sind die Schaufler zuständig. Seine Aufgabe ist nur, das Herausspringen der Kohle in seinem Bericht zu vermerken, damit Aufsichtsrat Schobel später Bescheid weiß. Der lässt dann alles weitere organisieren, die Schaufler kümmern sich um die verlorene Kohle. Danach steckt er den Bericht in eine Mappe und schreibt das Datum darauf. Sehr ordentlich.
Manchmal erzählt Bruno Colais eine Geschichte, die ihm einst auf seiner Arbeit widerfahren ist. Oft wenn er mit Freunden zu Abend isst, oder bei Geburtstagen gemütlich am Kamin sitzt. Er hat die Geschichte schon viele Male erzählt, doch staunen seine Freunde immer wieder. Ihren Anfang hat seine Geschichte nämlich an einem verschneiten Tag im November.
Der Tag begann schon ungewöhnlich, als der Eingang der Mine vollständig zugeschneit war. So kam die Nachtschicht nicht heraus, und die Frühschicht nicht hinein. Ganz so schlimm war das natürlich nicht, denn man hatte ja Schneeschaufeln. Und kräftige Arbeiter, die im Umgang mit Schaufeln geübt waren. Doch die Schaufeln waren innen, in der Mine. Der Eingang war wegen der Witterung stets mit einem großen Tor verschlossen – das nach außen öffnete, von innen kam man also nicht an den Schnee. Damals gingen sofort eine Menge Ideen durch die Köpfe der Frühschicht. Man wolle den Schnee sprengen, hieß es. Oder anzünden. Bruno Colais, pflichtbewusst wie er war, meldete sich aber mit der Stimme der Vernunft zu Wort: Man sollte doch am besten den Herrn Aufsichtsrat Schobel telefonisch informieren. Der wisse sicher, wie vorzugehen sei. Die dumpfen Stimmen, die man durch den Schneeberg von innen hörte, stimmten ihm zu. Ja, Aufsichtsrat Schobel hatte sicher guten Rat. Der Gehilfe Bammel hatte ein paar klimpernde Münzen in der Tasche, und machte sich sofort auf den Weg zur Telefonzelle. Er kam schon nach sehr kurzer Zeit zurück. „Die Leitung ist besetzt“ verkündete er. Die Männer schauten bedrückt. „Nun, nun“ sagte Bruno Colais, „warten wir mal ab, den erreichen wir schon noch.“ Er lies sich von dem jungen Bammel zwei Münzen geben und schritt jetzt selbst zur Telefonzelle.
Drinnen wählte er die Nummer, und eh er sich’s versah hörte er die Stimme des Aufsichtsrat Schobel. „Herr Schobel, einen guten Morgen! Hier ist Bruno Colais am Apparat.“ er lauschte einen Moment. „Ja, es gibt tatsächlich ein Problem!“. Dann erzählte er von dem eingeschneiten Tor, und von den Schneeschaufeln, die ärgerlicher Weise auf der Innenseite stünden. Schobel hörte sich alles ganz genau an. Als Bruno Colais endete, sprach er nicht direkt, sondern dachte einen Moment angestrengt nach. Dann sagte er: „Das beschriebene Problem scheint dringlich. Ich denke, ich muss ein paar Anrufe machen. Geben sie mir eine Viertelstunde, dann rufen Sie mich an. Bis dahin habe ich wohl eine Lösung.“ Bruno Colais bedankte sich, und legte auf.
Die anderen befragten ihn stürmisch, als er zurück zum Tor kam. „Was hat er gesagt? Was sollen wir tun?“ fragten sie immer und immer wieder. Endlich verschaffte er sich Ruhe.
„Der Herr Aufsichtsrat Schobel war ganz aufmerksam. Ich soll ihn gleich zurückrufen, dann gibt er mir die Lösung für das Problem.“
Sie alle warteten gute 15 Minuten, dann machte sich Bruno auf zu der Telefonzelle. Er erreichte den Aufsichtsrat Schobel auch sofort. „Was ist der Plan?“ fragte er.
„Ich habe mich umgehend an die Wetterbehörde gewandt. Laut vorhersage liegt heute nämlich gar kein Schnee. Da muss ein Fehler vorliegen.“ Das verstand Bruno Colais nicht direkt. „Aber hier liegt ja nun einmal Schnee. Trotz der Vorhersage.“
„Richtig.“ sagte Schobel. „Ich habe deswegen in 10 Minuten ein Treffen mit dem Vorsitzenden der Wetterkomission. Wir werden diesem Fehler gemeinsam auf den Grund gehen. Der Einfachheit halber komme ich danach mit meinem Wagen direkt zur Mine gefahren. Dann kann ich vor Ort alles organisieren. Bis dahin warten sie bitte. Außerdem wäre es nett, wenn sie alles bisher Geschehene in das Formular für Ausnahmeprotokolle übertragen.“
Bruno Colais war ein wenig verwundert, doch berichtete den anderen alles. Gemeinsam warteten sie 10 Minuten. Nichts passierte. Sie warteten einfach weiter, bis zwanzig weitere Minuten vergangen waren. Dann standen sie auf, atmeten tief durch, machten gymnastische Übungen und warteten weiter. 30 Minuten. Eine Stunde.
Schließlich, 2 Stunden waren seit Beginn der Schicht vergangen, kamen zwei Wagen mit unerhörter Geschwindigkeit auf den Schotterplatz gedonnert. Zwei Türen gingen auf, und Aufsichtsrat Schobel kam auf sie zu, hinter ihm ein unbekanntes Gesicht.
„Das, meine Herren“ sagte er und deutete auf den Mann, „ist der Vorsitzende der Wetter Komission.“
„Angenehm, Angenehm“ lies es sich da von Seiten der höflichen Arbeiter vernehmen.
„Wie Sie sicher alle wissen, gab es ein Problem wegen des eingeschneiten Tores. Das hatte einen Fehler im Wetter zugrunde, heute sollte es nämlich gar nicht schneien. Deswegen habe ich mich an die Wetterkomission gewandt, die ebenso erstaunt über den Vorfall ist. Ein ganzer Stapel Dokumente müsste deswegen korrigiert werden. Heute sollte es ja eigentlich gar nicht schneien. So viele Dokumente zu ändern, brächte natürlich einiges durcheinander. Wir sind darauf gekommen, dass es irgendwo im Archiv wohl einen umgekehrten Fall geben müsste, der den Fehler kompensieren könnte. Wir mussten also nach einem Tag suchen, an dem es nicht geschneit hat, obwohl Schnee vorhergesagt wurde. Diesen Tag könnte man dann mit den heutigen Tag vertauschen.
Die Arbeiter hörten aufmerksam zu. Aufsichtsrat Schobel machte eine selbstgefällige Pause. Dann fuhr er fort: „Zum Glück kann ich ihnen berichten, dass wir einen entsprechenden Tag gefunden haben!“
Jetzt meldete sich der Vorsitzende der Wetter Komission zu Wort: „So ein Fehler ist natürlich eine ärgerliche Sache. In diesem Fall bin ich aber doch zufrieden, einen zweiten gefunden zu haben, um den Jüngsten auszubügeln. Gefunden haben wir den Fehler im zweiten Archiv, Reihe 2, im oberen Fach.
In dem Protokoll für den 3. Februar 1969. Im Abschnitt für Vorhersagen in tabellarischer Form ist dort für den 4. Februar 1969 Schneefall angekündigt. Die Aufzeichnung im Archiv Nummer 2, im unteren Flur, besagen aber eindeutig, dass es an jenem 4. Februar 1969 keinen Schneefall gab. Stattdessen haben die Wetterstationen ‚leichten Nieselregen‘ beschrieben.“
Aufsichtsrat Schobel schaute triumphierend in die Runde: „Also ist heute der 4. Februar 1969!“ verkündete er feierlich. Bruno Colais änderte sofort das Datum in seinem Notizblock, damit es später keine Verwechslungen geben würde.
Die Runde schwieg. Nach einer Weile hörte man eine dumpfe Stimme aus dem Eingeschneiten Bergwerkstor: „Und wie kommen wir jetzt raus?“. Die Runde sah erwartungsvoll zu Aufsichtsrat Schobel. Der schaute mit roten Ohren zurück, und gab dann den Blick an den Vorsitzenden der Wetter Komission weiter.
Der blickte unverwandt zurück. „Nun“ sagte der, “ Da für heute ja jetzt Schneefall angekündigt wurde, ist es die Schuld der Leute, die die Schneeschieber nicht vorsorglich nach draußen gestellt haben.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von Schobel und verschwand zu seinem Wagen.
Schobel schaute etwas betroffen in die Gegend. Er sah aus, als hätte ihn eine Erkenntnis recht unsanft am Kopf getroffen.
„Ich denke in dem Fall brauchen wir…“ er brauchte einen Moment zum Nachdenken. Die Arbeiter schauten immer noch erwartungsvoll. Er wusste was sie brauchten. Sie brauchten eine praktische Lösung, in Form von Schneeschiebern. Aber er traute sich nicht, es zu sagen, denn er kannte sich kaum mit solchen Lösungen aus. Er wusste mit Dokumenten umzugehen, doch etwas Handfestes wie ein Schneeschieber war so…so inoffiziell.
Doch dann fiel ihm etwas ein: „Ich glaube in meinem Büro liegt ein entsprechendes Dokument! Rufen sie mich in 15 Minuten an!“ Er sprang in sein Auto und verschwand. Als Bruno Colais kurz darauf zum dritten Mal in der Telefonzelle stand, erklang Schobels stimme ganz aufgeregt:
„Ich habe den Ordner gefunden, warten sie.“ Man hörte ihn eifrig blättern. „Ja, hier steht es. § Im Schneefall gilt wie folgt vorzugehen: jeder beim Schneeschieben aktiv teilnehmende Arbeiter hat sich zuvor in der dafür vorgesehenen Liste am Eingang einzutragen. Außerdem hat er die Nummer seines Schneeschiebers zu vermerken §. Da haben Sie’s! Tragen sie sich einfach in die Liste ein und räumen sie den Schnee.“
Bruno Colais dachte einen Moment darüber nach. Dann kam er zu einem Schluss – es hatte keinen Zweck. Er musste selbst Überlegen, auf den Aufsichtsrat konnte er sich nicht verlassen. Er versicherte Schobel, seine Anweisungen weiterzugeben und verließ die Telefonzelle.
Zurück beim Tor weihte er die anderen in seinen Plan ein. Auch den Eingeschneiten riefen sie alles Wichtige zu. Zwei Arbeiter fuhren mit dem Motorrad und einem Anhänger zur Zentrale und kamen kurz darauf wieder. „Wie lief es?“ fragte Bruno Colais. Der Junge Bammel antwortete: „Uns hat niemand gesehen! Ganz unbemerkt sind wir durch den Nebeneingang geschlichen und haben Alles rausgeschafft.“
In 5 Minuten war alles weitere aufgebaut. „Man reiche mir das Feuerzeug.“ bat Bruno Colais in herrschaftlichem Ton. Bammel reichte es ihm mit Ehrerbietung. Er ließ es zünden und dann zu Boden fallen. Ein flackerndes Licht loderte auf, als ein großer Haufen Dokumente in Flammen aufging.
Hell erleuchtet standen sie inmitten der Szenerie, als Rauch aufstieg. Bald konnte man vor lauter Flammen und dunklem Rauch kaum noch etwas erkennen, erst als das Feuer nachließ sahen sie den Schneehaufen, oder vielmehr: Sie sahen ihn nicht mehr. Um Ihre Stiefel herum hatten sich kleine Bäche gebildet, als der geschmolzene Schnee vom Tor aus über den Hof strömte. Dann, mit einem letzten Zischen erlosch das Feuer und das große Tor schwang auf.
Und immer, wenn Bruno Colais diese Geschichte im gemütlichen Kaminzimmer erzählt, springt ein Funken über, von den brennenden Holzscheiten auf die Gedanken der Zuhörer.