Frau Übermuss war eine feine Dame und sie häkelte auch sehr feine Topflappen. Diese waren wichtig, wie sie sagte, um den Topf und seine tiefere Bedeutung richtig greifen zu können. Je feiner der Topflappen, desto besser begriffe man den Topf. Frau Übermuss hatte diesbezüglich sehr klare Ansichten. Ebenso klare Ansichten hatte sie auch über die Nachtruhe. Diese begann für sie um Punkt 19 Uhr und endete immer exakt dann, wenn sie ausgeschlafen war. Schon oft hatte sie ihre Nachbarn auf sehr direkte Weise auf die Wichtigkeit der Nachtruhe hingewiesen. Ein paar Mal war sie dabei allerdings, und das gestand sie sich selbst ein, einen Schritt zu weit gegangen.

Als zum Beispiel die Schlopendulls zwei Häuser weiter im Frühjahr ein Barbecue veranstaltet hatten, war die ausgelassene Stimmung noch bis nach 19 Uhr hörbar gewesen. Das hatte Frau Übermuss zu drastischen Maßnahmen veranlasst, doch im Rückblick erschien ihr das Alarmieren des Militärs doch etwas übertrieben. Wasserwerfer hätten fürs erste vollkommen ausgereicht.
Nach außen hin würde Frau Übermuss das aber niemals zugeben. Das konnte sie nicht, denn einmal mit der strengen Art begonnen, konnte sie von ihrem Standpunkt wohl nicht mehr fortrücken. Das machte sie nicht beliebt bei den Nachbarn, die zwar weiterhin grüßten, jedoch ansonsten ausgesprochenen Wert auf Distanz legten.
Jetzt gerade sehen wir sie von der mit Laternen beleuchteten Straße aus durch das ordentlich geputzte Wohnzimmerfenster einen geradezu unnatürlich feinen Topflappen fertigstellen. Sie hält ihn von sich weg ins Licht der Lampe und betrachtet ihn eingehend. Sie ist zufrieden.
Der Topflappen landet auf einem Stapel und Frau Übermuss lehnt sich zurück. Die linke Hand hält das Feuerzeug bereit, doch die Enttäuschung ist groß als die rechte Hand die leere Schachtel aufklappt.
Keine drei Minuten später steht sie mit winterlichem Anorak vor der Garderobe und zieht sich ihre Schuhe an. Doch auf dem Weg zur Haustür hält sie plötzlich inne: Was war das für ein Geräusch? Sie macht einen Schritt auf die Tür zu: Da war es wieder. Bei einem erneuten Schritt macht sie die Quelle der Störung ausfindig: Ihre Absätze. Mit solch lauten Schuhen würde sie es nie bis zum Automaten schaffen, ohne dabei das Ehepaar Klopolt von gegenüber aufzuwecken. Die schliefen nämlich stets bei offenem Fenster. Und sammelten alte Autoradios. Merkwürdige Leute, aber trotzdem: Sie wäre das Gespött der Straße, wenn sie es plötzlich wäre, die die nächtliche Ruhe störte. Also huscht sie zurück ins Wohnzimmer und steht kurz darauf wieder in den Flur, von wo aus sie lautlos zur Haustür schleicht – die schwarzen Absätze in feine, Schalldämpfende Topflappen gewickelt.
So gewappnet tritt sie durch die Haustür und begrüßt den kalten Winterwind, der ihr entgegenschlägt. Mit ihren professionell gedämpften Schuhen verlässt sie den Vorgarten und erreicht ungehört den Zigaretten Automaten auf der anderen Straßenseite. Behutsam wirft sie die abgezählten Münzen ein. Erwartungsvoll schaut sie hinab auf die kleine Ausgabeklappe. Nichts geschieht. Verwundert schaut sie auf und prüft den Preis – eingeworfen hat sie genug. Da landet plötzlich etwas in die Klappe. Sie greift hinein doch zieht ihre Hand blitzschnell wieder zurück. Das war keine Zigaretten Schachtel! Sie hebt die Klappen um einen Spaltbreit und späht hinein – das konnte nicht sein! Sie zog an dem karierten Knäul und hält den Topflappen ins Laternenlicht. Dann, ohne Vorwarnung, landete erneut etwas hinter der Klappe. Ihre Befürchtung bestätigte sich, als sie einen zweiten Topflappen herauszog.
Frau Übermuss machte einen Schritt zurück und starrte den Automaten verblüfft an. Ein dritter Topflappen kam zum Vorschein. Während sie die ersten beiden in der Tasche verstaute, erschienen zwei weitere. Beim Versuch, die Klappe möglichst lautlos anzuheben, fiel einer der Topflappen auf den Boden, doch als sie sich mühte ihn aufzuheben landeten schon die nächsten auf dem kalten Boden. Verzweifelt sah sie sich in der matt beleuchteten Straße um. Die Topflappen verursachten zum Glück keinen Lärm, doch es wurden immer mehr. Sie wandte sich wieder dem Automaten zu, vor dem sich jetzt die Topflappen auf dem Boden sammelten, da in der Klappe kaum genug Platz war.
Immer noch bedacht darauf, kein Geräusch zu verursachen, drückte sie der Reihe nach die Tasten auf dem Automaten, doch die Topflappen störte das wenig. Langsam machte sich Panik in ihr breit. Die Topflappen hatten sich zu einem kleinen Berg aufgehäuft und der Automat machte keine Anstalten, sein Verhalten zu ändern. Sie musste die Topflappen irgendwie wegschaffen. Sie lud sich einen Teil der Topflappen auf die Arme und schlich ums Haus herum in den Garten. Kurz darauf kam sie mit einer Schubkarre zurück. Damit konnte sie eine Menge Topflappen befördern, doch in der Zwischenzeit war der Berg auch auf das doppelte angewachsen. Ein paar Transporte später stellte sie die Schubkarre erschöpft ab. Die Topflappen kamen jetzt in immer kürzer werdenden Abständen und es war unmöglich, die Topflappen so schnell abzutransportieren, wie sie erschienen. Vor dem Automaten hatte sich mittlerweile ein Gebirge aus Topflappen aufgetürmt. Dann endlich kam Frau Übermuss eine Idee und sie schlug sich zur Rückseite des Automaten durch. Zu ihrem großen Glück stand dort eine Telefonnummer für Störungsfälle. Sie prägte sich die zahlen ein und schlich zurück ins Haus. Drinnen rutschte sie mit den Topflappen-Schuhen über die glatten Fliesen und konnte sich gerade noch an dem kleinen Tischchen festhalten. Sie zog das Telefon zu sich heran und wählte die Nummer. Auf der anderen Seite wurde abgehoben.
„Guten Abend“, meldete sich Frau Übermuss.
„N’abend.“
„Mein Name ist Übermuss. Bin ich hier richtig bei der Rohlo Automaten GmbH?“
„Ich bin Richard.“
Stille folgte. Als nichts weiter folgte, fragte Frau Übermuss: „Arbeiten sie für die Rohlo Automaten GmbH?“
„Ja, ich arbeite hier.“
„Das ist gut. Ich habe ein dringendes Probl….“
„Ich bin der Störungsfall“, tönte es sachkundig vom anderen Ende der Leitung.
„Wie bitte?“, fragte Frau Übermuss verdutzt.
Man hörte, wie Papier durchgeblättert wurde. „Oh, hoppla. Falscher Satz. Ich bin Richard.“
„Das weiß ich doch! Ich habe ein Problem mit einem ihrer Automaten.“
„Jaja. So ist das mit den Automaten.“
„Es ist sehr dringend“ betonte Frau Übermuss mit Blick durch das Fenster. Hinter dem sah sie, wie sich die Topflappen in astronomische Höhen türmten.
„Können sie das Problem beschreiben?“
Frau Übermuss zögerte. „Nun ja, der Automat gibt unaufhaltsam Topflappen aus.“
„Hm“, sagte Richard. Sie hörte ihn vor sich hin murmeln:“ Viele Topflappen kommen aus Automaten, was tun“. Im Hintergrund erklang das Klackern einer Tastatur. Frau Übermuss wartete geduldig.
„Also“, erklang es schließlich aus dem Hörer, „anscheinend machen die das manchmal.“
„Wer?“, fragte Frau Übermuss.
„Die Automaten“, kam die Antwort. „Ich hatte mal einen Dampfgarer.“
Frau Übermuss stutzte. „Kamen dort auch Topflappen heraus?“
„Nö. Das kann nur bei Automaten passieren.“
„Aha, warum erzählen sie dann von ihrem Dampfgarer?“
Auf der anderen Seite hörte man es wieder blättern. „Haben sie einen Dampfgarer?“
Frau Übermuss schaute verzweifelt aus dem Fenster: „Nein. Aber ich habe ein Proble..“.
„Möchten sie einen Dampfgarer kaufen?“ fragte die Stimme.
„Nein! Ich möchte, dass sie unverzüglich den Automaten vor meiner Haustür reparieren!“
Erneute Stille folgte. „Schade. Ich würde Provision kriegen, wenn sie einen kauften. Dann mach ich mich mal auf den Weg.“
Ermattet legte Frau Übermuss den Hörer auf die Gabel. Sie erhob sich und balancierte durch den glatten Flur hindurch zur Haustür und trat abermals hinaus in die Kälte.
Wenige Minuten später erschien ein Fahrrad am Ende der Straße. Darauf saß ein Mann mit Helm und Werkzeugkoffer. Er lehnte sein Fahrrad gegen die Laterne und ging auf Frau Übermuss zu. „N’abend. Ich bin Richard.“
„Übermuss“, sagt Frau Übermuss knapp.
Richard stellte seinen Werkzeugkoffer ab: „Was war noch gleich das Problem“, fragte er. Frau Übermuss starrte erst ihn ungläubig an, dann den meterhohen Berg aus Topflappen.
Richards Blick folgte ihrem Blick. „Klemmt die Münzeingabe?“ fragte er zögerlich.
„Topflappen“, half ihm Frau Übermuss auf die Sprünge. „Ach ja“, sagte er. „Stimmt.“
Er ging auf den Automaten zu und blieb einen Moment reglos stehen, bis er schließlich sagte: „Aufhör‘n.“
Augenblicklich stoppte die Topflappen Ausgabe. Frau Übermuss staunte. „Wie haben sie das gemacht?“ fragte sie und bekam den Mund vor Staunen nicht wieder zu.
„Ich hab ihm gesagt er soll aufhör’n“, antwortete Richard. „Übrigens, ich hab den Dampfgarer einfach mal mitgebracht, wenn sie sich das Gerät vielleicht anschauen wollen“ und er deutete auf den Gepäckträger seines Fahrrads, auf dem ein Karton befestigt war. „Ist wirklich ein tolles Gerät, auch sehr energieeffizient un..“
„Ich.Brauche.Keinen.Dampfgarer“, unterbrach ihn Frau Übermuss.
„Kein Problem,“ sagte Richard, „sie könnten ja trotzdem einen kaufen!“
Frau Übermuss‘ Gesichtsausdruck verriet ihm daraufhin, dass seine Verkaufschancen sehr gering und es jetzt auch Zeit zum Fahren war.
Frau Übermuss bedankte sich und begann, den Berg Stück für Stück abzutragen und in den Garten zu transportieren. Es war schon fast 3 Uhr nachts, als sie endlich fertig war. Müde ging sie ins Haus und legte sich schlafen. Dann plötzlich erklang ein Ohrenbetäubendes Scheppern auf der Straße. Aufgeschreckt ging sie zum Fenster und zog die Gardine zur Seite. Da stand Nachbar Klopolt von Gegenüber am Zigarettenautomaten. Vor ihm lag ein Haufen alter Autoradios auf dem Boden. Ein sonderbarer Automat. Ob Nachbar Klopolt wohl einen Dampfgarer hatte?