Rudi Rauf III

Ein neuer Supermarkt.

Eine große, gläserne Drehtür am Eingang und fünf Kassen samt elektrischen Fließbändern.

Abteilungen für Käse, Obst, Gemüse, Fleisch, Konserven und jede Menge sonstiger Waren.  

Eine Chipstüte.

So etwas gab es nicht in Little Oak, dafür war die Stadt wohl zu klein. Darum war es die nächste größere Stadt, Old Oak, die an einem kühlen Samstagvormittag die Neueröffnung des neuen Supermarktes feierte. 

Der frische Frühlingswind trug die Nachricht in das nahe Umland und durch die Zeitung erfuhren es auch die Bewohner von Little Oak. Ein Bürger schenkte der Nachricht besonders viel Aufmerksamkeit: Rudi Rauf.

Der Zeitungsartikel über die Neueröffnung hing an der quadratischen Pinnwand und lies das Räuberherz höherschlagen. Seine Bandenmitglieder, Nummer 1 bis Nummer 7, hatten Rudis Aufregung zuerst nicht verstanden. Erst als er ihnen den Artikel vorlas, regte sich dumpfes Verständnis in ihren Räuberhirnen. Alle Sieben waren Analphabeten und auch sonst eher unzurechnungsfähig. Dafür konnten sie viel tragen und zur Not zuschlagen. Zwei Eigenschaften, die ausreichten, um ein halbwegs nützliches Bandenmitglied zu sein.

Der Artikel betonte vor allem die als grandios betitelte Snackabteilung, die ihres gleichen suche.

Rudi stand am Ende des Eichentisches und sah seine Bande an: „Ich möchte meinen, unser Ziel ist klar. Hier in Little Oak haben wir alle Läden mindestens dreimal ausgeraubt, wir müssen neue Arbeitsbereiche erschließen. Der neue Supermarkt in Old Oak scheint mir ein gegebener Anlass zu sein, mal über den Tellerrand zu schauen.“

Seine Bandenmitglieder nickten interessiert. Das war ihre einzige Form der Kommunikation: Ein Kopfnicken, gemischt mit einer kleinen Emotion. Reden war deutlich zu kompliziert.

Dann wurde ein Plan ausgeheckt. Tagsüber wurde der Supermarkt laut Artikel von einem Wachmann überwacht. Den konnte man gewiss überwältigen, aber Rudi Rauf legte Wert auf Stil und Eleganz. Das sah man ihm nicht an, doch der gute Wille machte sich hier und da bemerkbar.

So wurde der Überfall auf den späten Abend verlegt, genauer gesagt auf 21:45 Uhr. Das war nämlich der Zeitpunkt, an dem der Supermarkt beliefert wurde.

Rudi erklärte alle Einzelheiten und organisierte einen kleinen Transporter. Dann war es soweit.

Durch den Feierabendverkehr hindurch fuhr der große Wagen über die Landstraßen in Richtung Old Oak, auf der Ladefläche Nummer 3 bis Nummer 7. Die anderen beiden saßen mit Rudi im Führerhaus und übten sich in Unauffälligkeit. Darauf kam es nämlich bei Rudis Plan an.

Sie suchten sich einen ruhigen Parkplatz in der Nähe des Supermarktes und warteten ab. Die letzten Einkäufer huschten durch die Drehtür und kamen mit „Dem Joghurt mit der Ecke“ und Chiasamen wieder heraus. Dinge die absolut Niemand brauchte, aber trotzdem gekauft wurden.

Um halb Neun kam der erste Lastwagen. Er fuhr durch das Tor zum Mitarbeiterparkplatz und hielt vor dem großen Rolltor. Dann kam der Zweite. Rudi ließ den Motor an und fuhr, genau wie die anderen, auch auf den Parkplatz. Er hielt etwas Abseits, um keinem der anderen im Weg zu stehen und womöglich dadurch aufzufallen. Die anderen folgten ihm aus der Fahrerkabine, alles geschah auffallend unauffällig. Nummer 2 pfiff ein Lied, um noch unauffälliger zu wirken. Nummer 1 schaute einfach in die Luft und zählte Wolken. Das war einfach, denn geblendet von Tiefstrahlern konnte man am dunklen Himmel sowieso nichts erkenne. Das passte gut, denn Nummer 1 konnte nicht zählen.

Dann kletterten die anderen von der Ladefläche und gemeinsam schlenderten sie durch das Rolltor.

Drinnen war recht hektischer Betrieb. Ein Gabelstapler fuhr durch das Lager, Paletten wurden auf Hubwagen durch die Gänge gezogen. Rudi schnappte sich einen dieser Hubwagen und fing ebenfalls an zu pfeifen.

Durch ein kleineres Rolltor gelangten sie in die Filiale selbst. Das Licht war an, aber Niemand zu sehen. Zielsicher machten sie sich auf den Weg zu der hochgelobten Snackabteilung. „Auf geht’s“ flüsterte Rudi und seine Bande begann, die Regale auszuräumen. Nummer 4 und 5 schafften noch einen zweiten Hubwagen herbei. Langsam, aber sicher stapelten sich Kartons mit Chipstüten auf den Paletten. Auf Rudis Anweisung hin nahmen sie nur Chips der Marke LustigFrisch.

Schließlich war der Chipsturm hoch genug und sie schlichen sich zurück zum Lager. In der allgemeinen Betriebsamkeit wurde keine Notiz von ihnen genommen und sie kamen ohne Zwischenfälle an ihrem Transporter an. Sie räumten die Beute auf die Ladefläche. Nummer 3 – 7 nahmen dazwischen Platz und die anderen eilten in die Fahrerkabine. Dann verließen sie den Hof.

„Das war einfacher als gedacht!“ rief Rudi auf dem Rückweg. „Die kriegen ja gar nichts mit! Da müssen wir öfter klauen.“ Nummer 1 und 2 nickten feierlich.

Zurück im Hauptquartier räumten sie die Paletten in die Geheimkammer. Ohne Hubwagen war es deutlich schwerer, aber Nummer 1-7 waren dumm und stark.

„Dann wollen wir’s uns gut gehen lassen!“, verkündete Rudi und öffnete feierlich eine der Chipstüten. Dann stutzte er: „Was soll das denn sein?“

Ungläubig starrte er in die Chipstüte. Auch die anderen hatten sich Chipstüten gegriffen und schauten ähnlich belämmert auf das, was sie sahen.

Wenn man von oben in die Tüte blickte, sah man nur eine Handvoll Chips.

„Das gibt’s doch wohl nicht!“, beschwerte sich Rudi. Er besah sich seine 250g Packung, die „20% mehr Inhalt“ versprach.

Nummer Vier trat stolz nach vorne und zeigte Rudi seine Tüte: Er hatte eine Variante mit etwas mehr Chips darin ergattert, fast 20 Stück. Rudi tobte vor Enttäuschung: „Ich beschwere mich, jawohl! Auf den Preisschildern stand 2,99 Euro, stellt euch vor wir hätten das ausversehen bezahlt!“

Zum Glück hatten sie die Tüten geklaut, aber selbst dafür war das Preisleistungsverhältnis erbärmlich.  

Nummer 6 meldete sich zu Wort: „Das ist Gewinnmaximierung durch den gezielten Gebrauch von Mogelpackungen!“

Rudi schaute ihn sprachlos an. Seit wann konnte der reden? Nun ja, Recht hatte er ja.

„Stimmt“, sagte Rudi, „das ist Betrug. Wir sind zwar auch Räuber, aber wenigstens ehrlich!“

Und dann kam ihm ein Gedanke: „Wisst ihr“, sagte er nach kurzem Überlegen, „eigentlich ist Ehrlichkeit gar nicht so wichtig wie man immer denkt. Vielleicht sollten wir ein wenig unserer Ehrlichkeit gegen Geld umtauschen?“

Eine Woche später war es soweit. Rudi saß am Ende des Eichentisches vor einer Geldzähmaschine und grinste in die Runde: „Soviel hatten wir noch nicht einmal, als wir die alte Postbank überfallen haben!“

Er zählte das Geld ab und verteilte die Bündel an Nummer 1 bis 7. Dann klopfte es an der Tür. Alle zuckten zusammen. Erschrocken sahen sie zu Rudi, der die besorgten Blicke an die Tür weitergab. Auf Zehenspitzen schlich er zum Fenster, doch in dem Moment flog die Tür schon mit einem gewaltigen Krachen aus den Angeln. Oberhauptmann Kummel trat in den Raum, in Begleitung des Oberwachtmeisters. Dieser war ein Hund, was seiner Autorität jedoch keinen Abbruch tat: Er war unberechenbar und gemeingefährlich.

Die Bande erstarrte bei seinem Anblick. „Mir liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor, Herr Rauf!“

Rudi blickte ihm verwundert in die Augen: „Ein Haftbefehl? Das ist doch kein Grund hier hereinzustürmen! Ich dachte es seien aktuell gut 50 Haftbefehle gegen mich ausgestellt?“

Kummel verbesserte sich: „Nun, dann sind es jetzt wohl 51. Der letzte stammt von der Verbraucherzentrale Old Oak. Damit ist nicht zu spaßen!“

Rudi Rauf verstand die Welt nicht mehr. „Was soll ich denn angestellt haben?“

„Genaueres weiß ich nicht“, erwiderte Kummel, „aber es geht wohl um ihre neu gegründete Chips Fabrik!“

Mit diesen Worten legte er dem Räuberhauptmann Handschellen an und führte ihn hinaus.

Drei zähe Tage später, die Rudi in der örtlichen Polizeizelle verbracht hatte, fand er sich in einem geräumigen Gerichtssaal wieder. Etwa 200 Kläger hatten sich eingefunden, allesamt recht wütend.

Der Prozess begann. Es hieß, seine Chips seien Betrug. Der Verteidiger kam zur Hilfe, mit der Erklärung, dass Mogelpackungen in gewissem Rahmen erlaubt seien.

Daraufhin wurde ein Beweisstück vorgebracht: Eine ungeöffnete Chipstüte aus Rudis neuer Fabrik. Vor den Augen des Richters wurde diese geöffnet. Darin befanden sich drei ganze Chips und ein halber.

Der Verteidiger pochte weiterhin auf das Recht, Mogelpackungen zur Gewinnmaximierung nutzen zu dürfe. Das führte dazu, dass sehr viele Kläger sehr wütend wurde. Schließlich musste der Richter in einem sehr alten Buch nachlesen.

Nach der Pause fanden sich alle wieder ein.

„Meine Damen und Herren“, begann der Richter, „ich möchte das Urteil den Geschworenen überlassen. Als Grundlage soll das folgende Zitat dienen“ und er las vor: „Möchte ein Händler oder ein Fabrikant oder ein fabrizierender Händler als solchiger oder dessen Mitarbeiter oder Mitarbeiterin sowie andere Angestellte des besagigten Unternehmens Unternehmicus die sein Produkt verhüllende Verpackung zur Gewinnmaximierung oder eines anderen Zweckes wegen oder aus anderen begründeten Gründen des Unternehmens verändern und zu seinem Vorteil die tatsächliche Ware fälschlich präsentieren, dann ist dies erlaubt. Eine gesonderte Sonderregelung gibt es für die Vertrieb von knusprig frischen Kartoffel-Salz Snacks. Bei diesen muss ein mindestgehalt von fünf einzelnen und der Norm entsprechenden Kartoffelchips gewährleistet sein. Wird dieses Minimum unterschritten ist der Vertrieb strafbar.“

Diesen Satz hatte niemand verstanden. Nicht einmal der Richter selbst, er hatte nur das Wort Kartoffelchips farbig markiert und anschließend den Absatz vorgelesen. Die geschworenen Diskutierten angeregt. Dann endlich wurde das Urteil bekanntgegeben:

Herr Rudi Rauf muss den Betroffenen, binnen der nächsten 14 Tage, die Differenzmenge von einem und einem halben Chip auszahlen!

Was danach passierte, ist nicht mehr ganz sicher. Manche behaupten aber, dass sehr viele Leute etwas unzufrieden mit dem Urteil waren. Natürlich haben sich alle damit abgefunden und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, in eine nahegelegene Chips Fabrik einzufallen.

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