Die vergangene Woche war aufregend und anstrengend zu gleichen Maßen gewesen. Die Urlaubssaison in Little Oak hatte ihren Zenit erreicht und verebbte nun langsam. Jede Menge Urlauber hatten sie ausrauben können, außerdem hatten sie den alten Schlagbaum wieder in Betrieb genommen. Der funktionierte ganz hervorragend und ihre Schatzkammer füllte sich zusehends mit ausgedachten Wegzöllen. So war es zumindest die letzten Tage gewesen. Jetzt war Sonntag und der letzte Tourist abgereist, Ruhe kehrte ein. Mit sich, als treuen Begleiter, brachte sie die Langeweile.

„Warum wird unsere Stadt nicht größer?“, beschwerte sich Rudi Rauf und schritt vor den Mitgliedern Nummer 1 bis Nummer 7 auf und ab. „Expansion ist das Zauberwort! Wenn es nur mehr Geschäfte gäbe, wir könnten uns den ganzen Tag lang dem Gesetz widersetzen. Aber so wie es aktuell ist, fällt mir kein einziger Laden ein, den wir nicht schon ausgeraubt hätten.“
Nummer 1 bis Nummer 7 nickten zustimmend. Das war ihre einzige Art der Kommunikation, die zwar einerseits flüsterleise war, doch andererseits nicht im Dunkeln funktionierte.
Traurig schaute Rudi Rauf aus dem dreckigen Fenster ihres Hauptquartiers, etwas abseits der Stadt. „Little Oak ist nicht mehr das, was es mal war.“
Er sah so viel Land, soviel Potential! Und dann formte sich ein Gedanke in seinem Räuberhirn. Was wäre, wenn man die Sache selbst in die Hand nähme? Macht es denn Sinn zu schmollen und darauf zu warten, dass sich endlich etwas tut, wenn man im Herzen ganz genau weiß, dass sich von selbst nichts verändern wird? Nein, das zog einen nur herunter.
Er fasste einen Entschluss und eines der Bücher im langen Regal. Sie hatten viele Bücher. Die Tatsache, dass Nummer 1 bis Nummer 7 Analphabeten und allgemein ziemlich dumm waren, hatte sie damals nicht davon abgehalten, die Stadtbibliothek auszurauben.
„Wir nehmen die Sache selbst in die Hand!“, verkündete er seiner Bande und hielt triumphierend das Buch in die Höhe. Der Titel las: „Unternehmertum von A bis Z“.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchten Nummer 1 bis 7, den Titel zu entziffern. Sie scheiterten. Kläglich.
Rudi kramte einen Block und Stifte aus einer Schublade und fing an, voller Eifer in dem Buch zu blättern. Den ganzen Abend lang kritzelte er auf Papier, zerknüllte Papier, pinnte Papier an die Wand, warf Papier durch den Raum und stellte allgemein sehr viele Dinge mit Papier an.
Lange nach Mitternacht stand das Konzept: Ein Süßigkeiten Geschäft sollte es sein, nicht allzu groß, dafür mit Regalen bis hoch zur Decke. Und natürlich eine große Kasse, für all das Geld.
Den fertigen Plan übertrug er auf einen großen Bogen, den er sorgsam zusammenfaltete. Dann verschwand er für einige Zeit in der Schatzkammer. Heraus kam er mit abgezähltem Geld, was er in zwei separate Taschen füllte. Dann las er noch einmal in dem Buch. Nummer 1 bis 7 sahen ihm bei all dem interessiert zu.
Der nächste Morgen glitzerte vielversprechend. Rudi Rauf mache sich samt Plan und Geld auf in die Stadt. Die anderen Nickten auf glückwünschende Weise.
Sein Weg führte ihn direkt zu der alten Kanzlei an der Gründerstraße. Dort hatte der Notar Möller sein Büro.
Rudi trat ein und fühlte sich direkt unwohl. Es war ziemlich still. Ein Mann in Nadelstreifenanzug schaute ihn an. Er klickte bedrohlich mit einem Kugelschreiber. Dann zeigte Rudi sein großes Messer und wurde auf der Stelle freundlich behandelt und kam auch sofort an die Reihe. Eine halbe Stunde später trat er zurück auf die Straße und hatte eine GmbH gegründet. Jetzt fehlte nur noch ein Ladengeschäft. Er spazierte durch die Straßen. Ein Gebäude am Rande der Einkaufsstraße machte ihn stutzig. Ein großes Schild verkündete, dass es abgerissen werden sollte. Das konnte doch nicht wahr sein! Anstatt das die Stadt größer wurde, fing sie an sich wieder abzureißen! So ging das nicht. Er bedrohte vorbeigehende Passanten mit seinem Messer und erfuhr den Namen des Besitzers. Eine Stunde später hatte er das Gebäude übernommen.
Er fühlte sich wohl auf dem staubigen Holzboden. Die Fenster waren hoch und so war es auch die Decke. Sonnenlicht schien hinein und verzauberte den Raum, sodass er die Gestalt aus seiner Fantasie annahm. Mit einer Schubkarre machte er sich auf Einkaufstour. Regale und die Kasse mussten her. Er fegte den Laden, putzte die Fenster und räumte alles ein. Dann besorgte er Holz und Farbe, womit er ein großes Schild malte. Er hängte es hoch über die Tür, damit es jeder sehen konnte. Die bonbonrosa Farbe an der Wand und das blaue Schild leuchteten in der Mittagssonne.
Dann stahl er einem Passanten das Fahrrad und radelte durch den kleinen Ort. Auf dem Weg fand er einen kleinen Anhänger, der unbenutzt in einem der vielen Hinterhöfe von Little Oak stand.
Mit dem Anhänger am Fahrrad fuhr er hinaus aus der Stadt, über die Felder hinweg bis zur weit entfernten Bustle City.
Dort gab es ein großes Lager, von dem Händler ihre Waren kaufen konnten. Er kaufte so viele Süßigkeiten, wie nur eben gerade auf den Anhänger passten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, etwas zu bezahlen. Auf dem Rückweg musste er vorsichtig fahren und den vielen Schlaglöchern ausweichen, damit der Turm aus Süßigkeiten nicht zusammenfiel. Über zwei Meter hoch hatte er seine Einkäufe auf dem Anhänger gestapelt.
Zurück in Little Oak verteilte er die Süßigkeiten in Gläser und Kartons, welche er auf den Regalen platzierte. Dann polierte er noch die Kasse. Als die Sonne gerade schlafen gehen wollte und ihren letzten Gute-Nacht-Schimmer über die Erde tanzen ließ, war es vollbracht: Rudi saß auf dem Boden seines eigenen Geschäfts, mit einer großen Kasse und Süßigkeiten, die sich bis zur Decke stapelten. Müde verließ er seinen Laden. Abschließen brauchte er nicht, er war ja schließlich der einzige Räuberhauptmann in der Stadt. Er nahm das Rad und fuhr durch die kühle Abendluft heim, zum Hauptquartier.
Am nächsten Morgen wachte er früh auf, radelte in die Stadt und betrat seinen Laden. Es dauerte nicht lange und die ersten Kunden ließen die Ladenglocke klingen. So ging es weiter. Der neue Laden sprach sich herum, um am Nachmittag war sogar eine Schlange vor der Tür. Jeder wollte in den neuen Süßigkeiten Laden. So ging es weiter. Auch am nächsten Tag kamen eine Menge Leute. Vor allem morgens, wenn die vielen Kinder zur Schule gingen und mittags, wenn dieselben Kinder wieder heim gingen. Das Geschäft brummte. Am darauffolgenden Tag musst er schon vormittags zumachen, um mit dem Rad nach Bustle City zu fahren: Nachschub besorgen.
Nach einer Woche war es so weit. Er und seine Bande wachten früh auf. „Auf geht’s!“ verkündete Rudi.
„Es gibt endlich wieder einen Laden zum Ausrauben. Macht euch bereit, es wird ein großer Tag!“
Nummer 1 bis 7 nickten und suchten ihre Räuberausrüstung zusammen. Dann frühstückten sie ausgiebig, wie sie es vor Überfällen immer zu tun pflegten. Rudi Rauf war aufgeregt. Er hatte schon viele Läden ausgeraubt, aber noch nie seinen eigenen. Es war ein Samstag. „Sicher stehen schon Kunden vor der Tür! Dann können wir vor ihren Augen Schrecken verbreiten und die Kasse ausrauben. Ich habe extra eine dünne Tür eingebaut, die können wir auftreten. Das wird einen sehr dramatischen Effekt haben.“
Sie zogen ihre Verbrechermützen auf. Dann machten sie sich auf den Weg. Vor dem Laden standen tatsächlich eine Menge Leute versammelt, doch etwas war komisch: „Nein! Was soll das denn?“
Die Tür hing kaputt an einer Angel, die andere war abgebrochen. Eines der Fenster war kaputt und vor dem Eingang lagen bunte Bonbons verstreut. „Das gibt’s ja wohl nicht!“, rief Rudi Rauf, „Es wurde eingebrochen! Diebe in Little Oak!“
Er trat ein. Drinnen war einiges Durcheinander und die Kasse war: „Weg! Die Kasse wurde gestohlen!“
Er verließ das ausgeraubte Geschäft und betrachtete den Schaden erneut von außen. „Das gibt’s ja wohl nicht. Wenn sie wenigstens nur gestohlen hätten, anstatt direkt alles kaputt zu machen! Das ist ja ein unmögliches Benehmen.“
Die Menge schwieg und starrte den Räuberhauptmann an, der in den vergangenen Jahren jeden Laden der näheren Umgebung auseinandergenommen hatte. Dann trat Oberhauptmann Kummel von der Stadtwache vor: „Was gibt’s denn, Herr Rauf?“, fragte er spitz. Rudi fuhr herum. „Mein Geschäft wurde ausgeraubt!“, sagte er und zeigte auf den demolierten Laden. „Oh, wie ärgerlich! Wer macht denn sowas?“, antwortete der Oberhauptmann mit gespielter Sorge.
„Oh warte“, fügte er hinzu, „Wollten Sie den Laden nicht gerade selbst ausrauben?“
„Ja, natürlich! Aber das heißt ja wohl noch lange nicht, dass jeder meinen Laden ausrauben darf! Das darf nur ich. Wo kommen wir denn da hin?“
„Nun“, erwiderte Kummel, „Ich denke das ist so eine Sache mit dem Ausrauben. Die Leute scheren sich zumeist nicht darum, ob sie etwas ausrauben dürfen. Sie machen es einfach.“
Rudi schaute aufgebracht: „Aber das geht doch nicht! Da muss jemand etwas gegen unternehmen!“
„Nun, da bin ich ganz ihrer Meinung. Eigentlich sollte man alle Räuber direkt einsperren, nicht wahr?“
„Jawohl, das wäre wohl das beste!“ erwiderte Rudi in Rage. „Gut, dass wir uns einig sind“, meinte der Polizist.
„Ich möchte Anzeige erstatten“, sagte Rudi. Der Polizist sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Sie möchten was?“
„Anzeige erstatten“, erwiderte Rudi bestimmt. Kummel zog seinen Notizblock hervor. „Wie Sie meinen. Was wurde Ihnen den gestohlen?“
Rudi zählte auf: „Eine Kasse, alle Einnahmen der letzten Tage und eine Menge Süßigkeiten.“
Kummel kritzelte eifrig mit. Dann fragte er: „Und was davon gehörte Ihnen?“
Rudi sah ihn verblüfft an: „Was davon mir gehörte? Na Alles natürlich! Es war doch mein Laden.“
Kummel sah in scharfsinnig an: „Ich meinte, welche der Dinge gehörten ihnen wirklich? Die Sachen die Sie gestohlen oder mit gestohlenem Geld gekauft haben, zählen nicht. In meinem Büro liegen gute Hundert Strafanzeigen gegen Sie vor, allesamt von Touristen. Es scheint mir, als ob Ihr Geschäft nicht mit ehrlichem Geld eröffnet wurde?“
Rudi stutzte.
„Jetzt sehen Sie mal, in was für einer dummen Lage Sie sind! Sie besitzen ja gar nichts wirklich. Alles ist einfach geklaut. Wie ärgerlich, dass Sie jetzt mal der Leidtragende sind und bestohlen wurden, nicht wahr?“
Das erste Mal in seinem Leben fühlte Rudi so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Dann schüttelte er sich. Als Räuber hatte er schließlich kein Gewissen, darauf war er stolz! „Nun Herr Wachtmeister, übertreiben Sie nicht! Das Ausrauben ist schließlich mein Beruf.“
„Das stimmt“, erwiderte Kummel, „und mein Beruf ist es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Darum möchte ich Ihnen ein Angebot machen: Ich halte Ausschau nach dem Ladendieb und Sie bauen ihr Süßigkeiten Geschäft wieder auf. Die nächsten Monate arbeiten Sie darin recht anständig und alles Geld was Sie verdienen, kommt der Polizeiwache von Little Oak zugute. Vielleicht reicht die Summe ja sogar für ein Dienstfahrrad, damit wären die unbekannten Diebe sicher schnell gefasst!“ Das war ein tolles Angebot, fand Rudi. Den Laden reparieren und etwas gegen diese dummen Diebe tun und vielleicht, wenn es sich ergab, könnte er ja am Ende doch noch sein Süßigkeiten Geschäft ausrauben. Wer weiß.