„Sie da! He, sie dahinten!“

Herr Bogarde stand als dritter von vorne in einer hübsch gereihten Schlange. Sein Ziel war es, einen saftigen Salatkopf zu erwerben. Nur diese besondere Sorte erfüllte die entsprechenden Anforderungen, die es als Salatkopf zu erfüllen galt, wenn man Teil eines frühlingsfrischen Blatt-Orangen-Salats werden wollte. Herr Bogarde gedachte, einen solchen Salat zu machen und den entsprechenden Salatkopf zu kaufen. Außerdem wusste er über die ähnlichen Vorhaben der mit ihm Wartenden Bescheid und wurde allmählich nervös, denn gerade wurde einer der Salatköpfe in einen Leinenbeutel verfrachtet. Übrig waren jetzt nur noch zwei.
„He da, hören sie mich nicht?“
Die Schlange rückte weiter und Herr Bogarde, auf Zehenspitzen stehend, reckte den Hals, um den Kaufprozess ihm Auge zu behalten.
„He, sind sie etwa taub?“
Jemand tippte ihm an die Schulter. Er zuckte ganz in seine Beobachtung vertieft zusammen und drehte sich um. Eine Frau mit elegantem Hut sah ihn an, sagte aber nichts.
„Was gibt es denn?“ fragte Herr Bogarde. In diesem Augenblick dröhnte eine Stimme über den Marktplatz und jetzt erst schien sie den Weg in Herr Bogardes Ohr zu finden: „He, sagen sie mal, ich rede mit ihnen!“
Herr Bogarde schaute nach rechts. „Tun sie das?“ fragte er verdutzt.
Der Rufende war trug eine gestreifte Jacke und stand etwa vier Meter weit von ihm entfernt vor einem Käsewagen.
„Natürlich, ich rufe ja schon die ganze Zeit!“
Herr Bogarde schaute noch eine Spur verdutzter: „Tatsächlich?“
Der Rufende nickte. „Ja, schon länger. Aber sie haben nicht geantwortet.“
Neugierige Blickte lugten vorsichtig aus der ein oder anderen Richtung zu den Beiden hinüber.
„Wie lange rufen sie denn schon?“ fragte Herr Bogarde.
Das ließ den Rufenden seine Stirn in Falten legen. Da meldete sich die Frau mit elegantem Hut zu Wort: „Er hat sie dreimal gerufen, bevor ich ihnen an die Schulter tippte.“
Herr Bogarde rückte seinen Bowler zurecht und wandte sich wieder in die Richtung des Rufenden. „Kommt das hin?“ fragte er.
Der Rufende nickte langsam. „Jaa“, sagte er gedehnt, „aber vielleicht waren es auch viermal.“
Da erhob die Frau erneut ihre Stimme und legte dieses Mal etwas Schärfe hinein: „Es waren ganz sicher dreimal.“
Herr Bogarde nickte höflich. „Wie lang waren denn die Abstände zwischen dem Rufen? Hat er dreimal schnell hintereinander gerufen oder mit Pausen dazwischen?“
„Vielleicht waren es auch viermal“, meldete sich der Rufende mit einem Hauch von Bockigkeit in der Stimme. „Und ich habe in mittleren Abständen gerufen!“ fügte er hinzu.
In diesem Moment meldete sich eine ältere Dame, die hinter der Frau mit elegantem Hut stand, zu Wort: „Entschuldigung, aber wir können weiterrücken.“
Tatsächlich. Der Käufer, den Herr Bogarde zuvor beobachtet hatte, war offenbar fertig und der Nächste stand bereits am Gemüsestand. Bogarde warf einen nervösen Blick auf die verbliebenen zwei Salatköpfe, wandte sich dann aber wieder dem Rufenden zu: „Sie haben mich also dreimal in mittleren Abständen gerufen?“ fragte er.
„Jawohl!“ antwortete der Rufende.
„Na wunderbar, dann ist ja alles geklärt“, sagte die Frau mit elegantem Hut. Doch damit war der Rufende offenbar nicht einverstanden.
„Also nun wartet doch mal! So nicht!“
Herr Bogarde und mittlerweile auch eine Vielzahl anderer Markbesucher wandten sich wieder zu ihm um.
„Was ist denn nun schon wieder?“ fragte Bogarde.
„Ich habe doch noch gar nicht gesagt, warum ich gerufen habe!“
„Wenn sie einfach mal einen Schritt näher treten würden, bräuchten sie ja gar nicht zu rufen“, meldete sich die ältere Dame zu Wort.
„Das stimmt“, sagte Herr Bogarde, „warum kommen sie denn nicht hier herüber, wenn sie mich sprechen wollen?“
„Ja, dann müssten sie nicht so oft schreien“, pflichtete ihm die Frau mit elegantem Hut bei, „das war jetzt schon das vierte Mal!“
Der Rufende straffte seine gestreifte Jacke und rief: „Ich hätte ja gar nicht so oft rufen brauchen, wenn man mich beim ersten Rufen gehört hätte!“
„Ich habe sie aber nicht gehört,“ erwiderte Herr Bogarde, „sind sie sich denn ganz sicher, dass sie mich dreimal in mittleren Abständen gerufen haben?“
„Jaa“, sagte der Rufende, „vielleicht ja sogar viermal!“
„Dreimal! Es waren dreimal!“ Widersprach die Frau mit elegantem Hut. „Ich hab bei jedem Ruf ein Radieschen gegessen und in meinem Korb sind noch genau sieben Stück!“
„Warum haben sie das getan?“ fragte Bogarde.
„Es war mir danach“, antwortete die Frau und rückte ihren eleganten Hut zurecht.
„Wie viele Radieschen waren denn vorher in dem Korb?“ rief der Rufende. Herr Bogarde und die Frau mit elegantem Hut sahen ihn an, als wäre er ein Kaputter Taschenrechner, sodass er schnell hinzufügte: „Beruhigen sie sich, ich erlaubte mir einen kleinen Spaß“, er machte mit den Händen eine besänftigende Geste: „Natürlich waren es vorher Zehn oder Elf“
Im nächsten Augenblick flogen vier wohlgezielte Radieschen auf den Rufenden zu, der mit einem Sprung hinter den Käsestand in Deckung ging und nur zaghaft wieder zum Vorschein kam.
Herr Bogarde sah erschrocken von einem zum anderen: „Nun beruhigen sie sich doch, das kann man doch herausfinden!“
Mit diesen Worten stellte er sich auf die Zehenspitzen und sah im Kreis herum und erst jetzt bemerkte er, dass er Teil eines Schauspiels war, dem der ganze Marktplatz gebannt folgte.
„Wo ist der Radieschenstand?“ rief er in die Runde.
„Dort hinten“, sagte die Frau mit elegantem Hut, „dort hinten habe ich meine Radieschen gekauft.“
Der Rufende sah in die Richtung, in die sie zeigte und auch der gesamte Marktplatz wandte sich um. Da stand, vom plötzlichen Rampenlicht versteinert, ein junger Mann an einem kleinen grünen Tisch.
Herr Bogarde wandte sich an den Rufenden: „Sie können doch so gut rufen. Fragen sie den Radieschen Verkäufer dort hinten doch bitte, wie viele Radieschen er der Frau verkauft hat.„
Das ließ sich der Rufende nicht zweimal sagen. Vor Überzeugung beinahe platzend dröhnte er: „He! Sie dahinten!“
Der junge Mann am Radieschenstand schien langsam seine Fassung wiederzufinden und antwortete: „Was gibt es denn?“
„Wie viele Radieschen haben sie der Frau mit dem eleganten Hut verkauft?“
Der Radieschen Verkäufer sah ratlos aus, doch er sah auf eine Liste auf seinem Tisch hinab und bewegte den Mund etwas während er offenbar eilig Zeile um Zeile las. Dann sah er auf: „Ich kann die Zahl nicht so wirklich erkennen. Die Liste ist ja nur für die grobe Buchhaltung gedacht. Aber es könnte eine Zehn sein.“
Die Frau mit elegantem Hut sah triumphierend zu dem Rufenden hinüber. „Oder eine 11“, fügte der junge Mann vom Radieschenstand hinzu.
„Ha!“ rief der Rufende.
„Ich bitte sie!“ meldete sich die Frau, „ich weiß doch wohl am besten, wie viele Radieschen ich gekauft habe!“
„Entschuldigt bitte, aber wenn sie nicht langsam weitergehen, würde ich einfach an ihnen vorbei gehen und schonmal meinen Salat kaufen“, meldete sich die ältere Dame zu Wort, „ich möchte nämlich vor Sonnenuntergang mit meinem Einkauf fertig sein.“
Herr Bogarde schaute erschrocken hinter sich und sah, dass er nun an der Reihe war und, was noch wichtiger war, dass noch genau ein saftiger Salatkopf auf der Theke lag.
„Oh, nein schon gut“, sagte Herr Bogarde, „ich werde jetzt hier einkaufen.“
Er trat nach vorn an den Stand und wollte gerade den ersehnten Salatkopf ordern, als ihn die laute Stimme des Rufenden unterbrach: „Nun warten sie aber mal, ich bin doch noch gar nicht zu Wort gekommen!“
Herr Bogarde sah sich um doch die Frau mit elegantem Hut kam ihm zuvor: „Nicht zu Wort gekommen? Sie? Aber sie rufen doch schon die ganze Zeit!“
Herr Bogarde versuchte ganz besonders nachdrücklich zu nicken.
„Ja, stimmt schon. Ich habe die ganze Zeit gerufen. Aber ich bin ja nie dazu gekommen, zu sagen warum ich gerufen habe!“
„Ach, sie hatten einen Grund?“ fragte Herr Bogarde erstaunt.
„Ja, ich rief aus einem Grund!“ bestätigte der Rufende.
„Dann müssen sie das aber auch sagen“, mischte sich die Frau mit elegantem Hut ein.
„Sind sie bald fertig?“ erklang die scharfe Stimme der älteren Dame.
„Ja gewiss“, antwortete Herr Bogarde, „der Mann in der gestreiften Jacke dort teilt mir nun den Grund für sein Rufen mit. Danach werde ich meinen Einkauf fortsetzen und ihnen damit ermöglichen, das gleiche zu tun.“
„Also wenn ich eher so schräg von links auf den Zettel schaue, könnte es auch eine Zwölf sein.“
Der gesamte Marktplatz drehte sich um. Der Radieschen Händler stand mit dem Zettel in der Hand neben seinem Stand im Sonnenlicht und kniff ein Auge zu.
„Ist schon gut“, rief die Frau mit elegantem Hut herüber, „wir haben das bereits geklärt.“
„Bin ich jetzt endlich an der Reihe?“ fragte der Rufende.
„Das frage ich mich auch!“ erklang die Stimme der älteren Dame.
„Wenn es nach mir geht, dürfen sie gerne vorgehen“, sagte die Frau mit elegantem Hut höflich.
„Das wird nicht nötig sein“, trat Herr Bogarde dazwischen, „wir sind ja sofort soweit.“
„Also ne Dreizehn ist es nicht, da bin ich mir sicher!“ erklang die Stimme des Radieschen Händlers vom anderen Ende des Marktes, doch Herr Bogarde ignorierte ihn und richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf den Rufenden.
„Wenn sie mir nun den Grund ihres Rufens mitteilen würden“, bat er.
Der Rufende Strahlte: „Ich wollte wissen, ob sie nicht mal diesen schwäbischen Wurzelgouda probieren mögen. Ich hatte auf die Entfernung so das Gefühl, der könnte etwas für sie sein.“
Herr Bogarde schaute ihn ausdruckslos an. Mehrmals nahm er seinen Bowler vom Kopf und setzte ihn wieder auf. Es sah aus, als wollte er seine Fassung Stück für Stück zurück in seinen Kopf schaufeln. Der Marktplatz war mucksmäuschenstill. Nur die ältere Dame wühlte in einer überdimensionierten Geldbörse herum und schlich sich an Herr Bogarde vorbei an den Salatstand.
Bogarde fand seine Sprache wieder. „Warum sollte ich schwäbischen Wurzelgouda mögen?“
Der Marktplatz wandte die Köpfe dem Rufenden zu.
„Naja, sie machten mir so denn Anschein“, erwiderte der Rufende. Plötzlich begann er merkwürdig zu grinsen. Herr Bogarde wollte gerade fragen was das denn nun solle, als die ältere Dame an ihm vorbei in Richtung des Rufenden ging. In ihrem Korb lag der letzte, saftige Salatkopf.
Da verstand Herr Bogarde das Spiel und sah sich im nächsten Moment bestätigt, als die ältere Dame dem Rufenden eine silberne Münze reichte: „Gut gemacht, hervorragende Ablenkung. Die Essenz eines frühlingsfrischen Blatt-Orangen-Salats darf nicht fehlen und ohne ihre Hilfe hätte ich keinen mehr ergattert!“
Herr Bogarde fehlten die Worte und auch die Frau mit elegantem Hut sah empört aus. „Das gibt es doch nicht!“ ereiferte sie sich. Doch da kam Bogarde eine Idee. Er lief der älteren Dame hinterher, überholte sie und kam schlitternd vor dem großen Orangenstand stehen, auf den sie zugegangen war:
„Ich hätte gern alle Orangen!“
„Nein!“ hörte er die ältere Dame hinter sich rufen und Bogarde sah siegesgewiss dabei zu, wie die junge Frau des Orangenstands, wenn auch etwas verwundert, alle Orangenkisten durchzählte und in einen Taschenrechner tippte.
„938,76€ wären das bitte“, sagte sie und begann, die Kisten aufeinander zu stapeln.
Herr Bogarde öffnete sein Portemonnaies und war nicht allzu überrascht, als er darin weniger als die erhofften 938,76€ vorfand. Deutlich weniger.
„Ich hätte hier 5€ und eine abgelaufene Club Karte vom Trachtenverein Holzlangern, wäre es möglich den restlichen Betrag auf Rechnung zu nehmen?“
„Natürlich“, antwortet die junge Frau und tippte in ihrem Taschenrechner herum und füllte einen Zettel aus. „Die meisten Kunden belassen es bei Stückzahlen von 3 bis 4. Wofür brauchen sie denn gleich Zehn Kisten?“ sagte sie.
Herr Bogarde überlegte einen Moment. „Für den Sieg“, sagte er und wandte sich schließlich um.
Er sprang auf als er feststellte, dass die übrigen Marktbesucher einen Halbkreis um ihn und die ältere Dame gebildet hatten. So standen sie sich gegenüber, Auge in Auge.
„Gut gespielt“, sagte sie, „was hat ihnen das nun gebracht?“
„Wenn ich keine Zutaten für den frühlingsfrischen Blatt-Orangen-Salat bekomme, dann soll sie auch sonst niemand bekommen. Sie haben den letzten Salatkopf, aber ich habe die Orangen!“
„Wie wäre es, wenn sie einfach teilen?“ meldete sich eine Stimme. Es war der Radieschen Verkäufer.
„Das wäre zu einfach“, rief jemand anderes, „sie müssen kämpfen!“
In diesem Moment fuhren zwei alte Transporter hinter dem Orangenstand entlang und machten Halt. Jemand stieg aus und öffnete die große Heckklappe.
„Ah, endlich!“ ertönte eine Stimme und die Salatverkäuferin ging auf den Wagen zu. „Gut ,dass sie mir noch welche liefern, ich habe alle Salatköpfe verkauft. Oh, und sie haben auch noch einen Nachschub an Orangen, wie ich sehe!“
Das war zufiel für Bogarde. Er lehnte sich erschöpft gegen den Stapel Orangenkisten, den er soeben gekauft hatte. Die ältere Dame sah ihn fast mit etwas Mitleid an: „Ich werde mir nun eine Orange kaufen. Im Gegensatz zu ihnen werde ich es aber bei einem Exemplar belassen.“
Sie trat an den Stand heran, drehte sich aber noch einmal zu ihm um: „Wenn man etwas wirklich erreichen möchte, dann darf man sich nicht ablenken lassen. Von niemandem.“