Es regnete schon so lange, dass die Tropfen ihre Farbe verloren hatten und nur noch schwarze Tropfen vom Himmel hingen. Alles war dunkel, auch am Tag. Dub ging bergauf und kickte einen Tannenzapfen vor sich her. Schwarze Fäden landeten auf seiner Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Das Licht der Laterne verfing sich in dem Durcheinander und drang kaum bis zu ihm durch.

Nach einiger Zeit erreichte er eine Siedlung mit schlafenden Häusern, die ihre Jalousien geschlossen hatten. Seine Abkürzung führte ihn über einen Zaun hinweg durch einen Hinterhof, von wo aus er auf einen Wendeplatz gelangte. Er sah sich um. Unter diesen Umständen würde ihn wohl niemand bemerken, doch sicher war er nicht. Er drehte sich aufmerksam um die eigene Achse. Ein paar Augen starrte ihn durch die schwarzen Fäden direkt an. Die Person stand auf einem der Grundstücke und beobachtete ihn. Damit hatte Knut nicht gerechnet. Er drehte sich um ein weiteres Stückchen und zuckte ein wenig zusammen, als er ein weiteres Augenpaar ausmachte. Das erste kam jetzt direkt auf ihn zu. Knut ging in die Knie und tastete nach etwas – ein loser Stein. Er drehte ihn, doch es war zu spät, denn er hörte Schritte dicht hinter sich. Er nahm den Pflasterstein, rannte los und bemerkte kaum, wie knapp er der kühlen Hand entkommen war, die nach seiner Schulter gegriffen hatte.
Mit seiner rechten Hand hielt er den Stein in festem Griff, mit der linken zog er die Kapuze weit nach vorne, um sich den Regen aus dem Gesicht zu halten. Er hörte seine Verfolger und bemerkte, wie er außer Atem geriet. Er bog nach links, um kurz darauf abermals nach links abzubiegen. Er führte seine Verfolger im Kreis. Dass sie seinen Plan zu spät durchschauen würden, war seine einzige Chance. Vorsichtig drehte er den Pflasterstein in seiner Hand, sodass die Unterseite nach oben zeigte. Eine Kurve später hechtete er erneut auf den großen Wendeplatz. Hinter sich hörte er, wie auch seine Verfolger den Platz erreichten.
Hektisch kniete Knut in der Mitte des Platzes nieder und setzte den Stein in die passende Lücke. Alles veränderte sich. Die Geräusche der beiden Verfolger verschwanden und der gesamte Platz machte eine Vierteldrehung.
Die schwarzen Fäden lösten sich erst in Rauch und dann in Nichts auf. Die Siedlung blieb dort, wo sie war, nur schienen die Häuser nun aus einer anderen Zeit oder einem anderen Land zu kommen.
Knut stützte sich ermattet auf seine Hände und atmete durch. Seine Jacke triefte und seine Stiefel waren dreckig.
„Knut!“, rief da jemand. Er schaute auf und erkannte den Fremden: „Professor Waldemar Diepholz!“ rief er heiter. Sein Gesichtsausdruck wurde aber gleich darauf wieder ernst: „Zwei Verfolger waren es!“ sagte Knut in bedrücktem Tonfall. Der Professor kam auf ihn zu. Er war ein älterer Mann, in einen Mantel und Gummistiefel gekleidet und mit zwei funkelnden Augen.
„Das gibt`s doch nicht! Eine Unverschämtheit. Nun gut, hier können sie ja nicht herkommen.“
Knut stand auf: „Weil sie dafür zu dumm sind, richtig?“, fragte er.
Professor Diepholz drehte sich einmal um die eigene Achse und starrte Knut einen kurzen Moment lang an. Dann sprach er: „Nicht wirklich, wenn man es genau nimmt. Aber so habe ich es dir ja erklärt, also ja. Sie sind zu dumm.“
Er wandte seinen Blick von Knut ab und schaute zum Horizont, an dem sich ein roter Sonnenuntergang abspielte. Ohne ein weiteres Wort schritt er los. Knut folgte ihm.
Sie verließen die Siedlung und gelangten bald auf einen lehmigen Weg, der sie durch eine weite, windige Ebene führte.
„Wo sind wir hier?“, fragte Knut.
„Das ist die weite, windige Ebene!“, antwortete der Professor und deutete auf ein entsprechendes Schild am Wegesrand. Knut nickte.
Mit der Zeit machte sich ein seltsames Rauschen bemerkbar, das stetig lauter wurde. Auch der Wind wurde stärker. Dann erreichten sie – „Das Meer!“, rief Knut verblüfft. Das Meer nickte.
Der Strand war schmal und steinig, zwischen den kleinen Felsen hatten sich Muscheln und Seetang versteckt. Knut fiel ein kleines Ruderboot auf, das auf den Kopf gedreht tief im Sand lag, in sicherer Entfernung zur Brandung.
„Ich nehme an, das ist dein Boot?“, stellte Knut fest und sah dem Professor Diepholz dabei zu, wie er das Boot aus dem Sand befreite und umdrehte. Darunter kamen ein paar Ruder zum Vorschein.
„Momentan ist es meines, sehr richtig.“, sagte der Professor.
„Warum momentan? Hast du vor es wieder zu verkaufen?“
Der Professor maß ihn mit einem durchdringenden Blick: „Es gab mal eine Zeit, in der es mir nicht gehörte und ich bin mir sicher, dass eine Zeit kommen wird, in der es mir wieder nicht gehören wird.“
Er verstaute die Ruder im Boot und zog es in Richtung der Wellen.
„Also ist es geliehen?“, fragte Knut und half Professor Waldemar Diepholz, das Boot durch den tiefen Sand zu ziehen.
„Ja, es ist wohl geliehen“, sagte der Professor, „genau wie mein Leben.“, fügte er lächelnd hinzu.
„Ach so!“, sagte Knut und richtete sich auf: „Jetzt verstehe ich!“
Der Professor war merkwürdig genau, wenn es um manche Begriffe ging.
„Das ist gut“, erwiderte der Professor, „noch besser wäre es, wenn du deine Schuhe ausziehst und die Hosen hochkrempelst. Im Gegensatz zu mir hast du nämlich keine Gummistiefel geliehen.“
Knut befolgte den Ratschlag und legte seine Schuhe zu den Rudern ins Boot. Gemeinsam schoben sie den Kahn ins Wasser.
Sie fuhren geradewegs aufs offene Meer hinaus, auf dem noch das Licht der untergehenden Sonne schimmerte. Eine ganze Zeit lang sagten sie beide nichts, dann wurde es dunkel. Knut versuchte aufdringliche Vorstellungen von Seeschlangen zu verdrängen, die in der nun dunklen Tiefe unter ihrem Boot lauerten.
„Es ist sehr dunkel!“, stellte Diepholz fest. „So kann man ja gar nicht anständig rudern! Ich sollte es heller machen.“
Knut hielt den alten für etwas verwunderlich, bei den Gedanken an die Seeungeheuer ertappte er sich aber bei dem Wunsch, der Professor würde wirklich das Licht anknipsen. Der Professor zog ein Yo-Yo aus der Tasche. Zumindest schien es das auf den ersten Blick zu sein. Als Knut genauer hinsah, erkannte er trotz der Dunkelheit eine Vielzahl von Zahnrädern daran, außerdem gab es deutlich mehr als nur eine Schnur. Diepholz zog daran und verstellte damit eines der Zahnräder.
Mit einem Mal lag der Ozean im Finstern – das letzte Bisschen Sonne war mit einem Schlag verschwunden. Dann stieg mit beeindruckender Geschwindigkeit eine riesige leuchtende Kugel an den Himmel, dicht gefolgt von einer zweiten. „Monde!“, rief Knut erstaunt aus. Der Professor grinste verschmitzt und dreht weiter an dem Yo-Yo herum.
Weitere Monde flogen über das Firmament. Plötzlich begann ein Tosen in den tiefen des Meeres und für einen Moment war alles ganz still. Dann stieg neben ihnen eine Welle in die Höhe, türmte sich immer weiter auf. Ihr kleines Ruderboot wurde mit in die Höhe getragen, als aus der Welle ein Berg aus Wasser wurde. Knut klammerte sich erschrocken an der Ruderbank fest und blickte nach oben. Zwei der Monde waren ineinander geflogen und zerstoben in einem funkelnden Schauspiel in Trümmer.
„Hoppla“, murmelte der Professor Diepholz, „Muss wohl einer zu viel gewesen sein.“
Er drehte seelenruhig an einem der Rädchen. „Das hat die Gezeiten durcheinandergebracht!“, rief Knut und sah panisch über den Rand des Ruderboots. Immer noch türmte sich die Welle auf, ihr Boot befand sich auf halber Höhe. Unter ihnen ging es viele Meter in die tiefe und Knut machte eine Art Strudel aus, der Wasser aus den Tiefen sog. „Ah, jetzt habe Ichs, glaube ich“, hörte Knut den Professor verkünden. Für einen Moment erstarrte das Meer, dann rollte die Welle los und trug das Boot mit sich.
„Gratuliere“, rief Knut gegen das Getöse an und hielt sich mit aller Kraft am Boot fest. Immer schneller wurde die Fahrt. Knut sah hinter sich auf die Welle, die das kleine Boot vor sich hertrieb. Dann tauchte vor ihnen etwas aus dem schwarz glitzernden Wasser, etwas Großes, wie eine Rampe. Ihr Boot steuerte direkt darauf zu, Knut kniff die Augen zusammen und merkte, wie das Boot den Kontakt zum Wasser verlor und in die Höhe schleuderte. Er wagte es, die Augen zu öffnen. Die Welle donnerte unter ihnen hindurch. Dann ging es viele Meter bergab. Mit einem gewaltigen Schlag traf das Boot wieder auf der Wasseroberfläche auf. Dann war alles ganz leise. In der Ferne sah Knut, wie die Riesenwelle auf den Horizont zurollte und schließlich verschwand.
„Was ist gerade passiert?“, fragte er. Professor Diepholz schaute auf: „Ich glaube, das war ein Wal.“
Knut stutzte, dann verstand er: „Nein, ich meine das davor. Die Monde!“
„Ach so“, sagte der Professor, „das waren Monde. Man nimmt einfach ein Mond Yo-Yo und..“, aber Knut unterbrach ihn; Es hatte keinen Sinn sich etwas erklären zu lassen, wenn die erzählende Person Dinge wie Mond Yo-Yos als bekannt voraussetzt.
„Ich glaube, wir sind gleich da“, sagte der Professor.
„Oh“, erwiderte Knut.
Er hatte noch eine Frage die ihm auf dem Herzen lag: „Sag mal“, fragte er zögerlich, „Wann erreiche ich denn eigentlich das Ziel? Erreiche ich es überhaupt?“
Der Professor schien bei dieser Frage plötzlich hellwach: „Das hat mich bisher jeder gefragt. Und ich habe jedem die gleiche Antwort gegeben.“
„Ich habe nämlich nur die eine“, fügte er etwas kleinlaut hinzu.
„Und die wäre?“, fragte Knut.
„Nun, du musst zuerst einmal das Ziel kennen. Meist hat man es schon einmal gesehen, aber es wieder vergessen. Es ist gar nicht so leicht, es zu finden. Wenn man es aber kennt, ist der Rest ziemlich leicht. Gerade für dich. Deswegen solltest du jetzt gründlich suchen, damit du es endlich anstreben kannst. Ah, der Hafen!“
Knut schaut auf und sah hohe Hafenwände, die links und rechts von ihnen vorbeizogen.
Der Professor manövrierte das Ruderboot zu einer rostigen Leiter, mit welcher man aus dem Hafenbecken herauskam.
„Viel Glück!“, wünschte ihm der Professor. „Ich denke wir sehen uns in kaum 48 Stunden wieder.“
Knut nickte. Er kletterte aus dem schaukelnden Boot, griff nach der Leiter und stieg an ihr empor. Als er noch einmal nach unten sah, war der Professor bereits verschwunden.
Dann erreichte er die letzte Sprosse und stand schließlich inmitten von Containern auf nassem Asphalt. In der Ferne erkannte er eine riesige Stadt, in der sich Gläserne Wolkenkratzer auftürmten und in die Nacht leuchteten.
Aufmerksam blickte er sich um und entdeckte das gesuchte Symbol an einem der Container. Er ging darauf zu und schob den Verschluss zur Seite. Der Platz auf dem er Stand dreht sich ein Stückchen – es ging wieder los.