Vor Bergen muss man keine Angst haben. Angst muss man nur vor der eigenen Leichtsinnigkeit und fehlender Ehrfurcht haben. In ihr liegt die wahre, zuweilen vernichtende Gefahr.

„Berge sind das größte, was wir erreichen können!“, merkte Hal an. „Wie bitte?“, fragte Nev.
„Das ist ein zapfiges Sprichwort. Sehr alt.“, erklärte Hal. „Woher kommt es?“, erkundigte sich Nev. Schritt für Schritt wanderte er durch eine weite Ebene, immer auf das große Gebirge zu. Hal saß auf seiner Schulter und erzählte: „Zafus hat es gesagt. Er war dabei, als die Berge zu Urzeiten in die Welt kamen.“ Nev hörte interessiert zu.
„Alles war Magie damals. Zafus war dabei. Er hat die Geschehnisse des Anfangs mithilfe von Sprache in die Köpfe aller seiner Nachfahren geschrieben.“
„Was meinst Du mit Anfang?“
„Nun, der Anfang eben. Wir haben kein anderes Wort dafür, es beschreibt alles wofür es steht.“
„So etwas wie der Beginn der Erde?“, fragte Nev. Hal zögerte. „Ich glaube, es ist komplizierter als das. Eine Erde beginnt nicht einfach, es braucht einen..Anfang.“
Nev überlegte und suchte nach dem Unterschied zwischen dem Beginn der Erde und einem Anfang. Hal beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. „Ich kann es nicht erklären, ich selbst verstehe es auch nur, weil ich eben ein Gnobbel bin. Es ist liegt in meiner Natur, über Anfänge Bescheid zu wissen.“
Winzige Punkte bewegten sich über Farbe. Trockene Farbe. Wenn die Vögel hoch genug flogen, nahmen sie gar keine Bewegung war. Wenn es dunkel wurde, hielten sie inne und beim ersten Sonnenschein am Morgen regten sie sich wieder. Tage waren vergangen und Nev und Hal wanderten tapfer durch die Endlosigkeit. Der Fuß des ersten Berges kam näher, mit jedem Tag ein Stückchen. Dann, eines Mittags, gab Hal ein lautes Hurra von sich: „Schau! Da ist sie!“ und er deutete auf den Boden vor ihm. Dort zog sich etwas wie eine feine Linie durch die Trockenheit. Kaum sichtbar. „Hier beginnt der Berg“, erklärte Hal. Nev schaute von der Linie auf und sah sich am Fuße eines langen Aufstiegs stehen. Der erste Berg, wie Hal ihn nannte, ragte durch die Wolken hindurch. Der Gipfel war nicht zu sehen, der Pfad führte einfach in die Höhe.
Hal konnte es kaum erwarten, sprang von Nevs Schulter und lief aufgeregt los. Nev eilte sich, nicht zurückzufallen; Gnobbel konnten äußerst flink sein. „Was ist mit dem Proviant?“, keuchte er, „Wir haben nicht viele Vorräte und wir werden wochenlang im Gebirge unterwegs sein!“
„Es gibt allerhand im Gebirge!“, beschwichtigte ihn Hal, „nicht viele wagen sich in solche Höhen, für uns zwei wächst genug am Wegesrand.“
„Niemand muss dort verhungern“, fügte er mit einem seltsam abwesenden Ton hinzu.
Nev hatte ein mulmiges Gefühl, aber er hielt daran fest, dem Gnobbel zu vertrauen. Sie begannen den Anstieg.
Am nächsten Tag erreichten sie spät abends eine Anhöhe. Hal kletterte auf Nevs Kopf und gemeinsam blickten sie zurück. Kilometerweit konnten sie über das Land schauen, der Waldrand von welchem sie gekommen waren, lag längst außer Sicht. Die Heimatwiese der Gnobbel war sowieso magisch verschwunden und lag nun irgendwo auf der Welt, vermutlich weit weg von ihnen.
Nev setzte sich und aß die kleinen Beeren, die Hal unterwegs gesammelt hatte. Er hatte ein sonderbares Talent sie aufzuspüren und führte Nev tagsüber, meist ganz plötzlich, zu kleinen versteckten Sträuchern. Ohne Hal wäre er wohl längst auf dem kahlen Anstieg verhungert.
Etwas piekte ihn in die Wade: „Was ist?“, fragte er den Gnobbel verwundert. „Lass uns noch etwas weiterwandern. Dann können wir den Gipfel eher erreichen!“
Nev schaute ihn mit großen Augen an: „Ich bin den ganzen Tag gewandert! Du kannst ja immer gemütlich auf meiner Schulter sitzen.“
Hal schaute ihn weiter an, bis Nev noch ein „Ich bin müde.“ hinzufügte.
Damit war Hal nicht zufrieden: „Wir wollen an unser Ziel gelangen! Wir wollen nach dort oben, Du weißt was das bedeutet?“
„Es bedeutet, dass ich das Gebirge überqueren muss, um zurück zur Bahnstrecke zu gelangen.“ antwortete Nev. „Nein!“, rief da der Gnobbel. „Dieses Gebirge überquert man nicht einfach so! Wir ruhen uns zu oft aus, so kommen wir niemals an!“
Nev war verdutzt. Die letzten Tage hatten sie immer in der Nacht gerastet und waren tagsüber gewandert. Vielmehr war er es, der wanderte. „Aber jetzt hat der Anstieg begonnen, das ist etwas völlig anderes.“, erklärte Hal, nachdem Nev auf seine Ansicht hingewiesen hatte.
Hal hörte nicht damit auf, zu drängen. Schließlich gab Nev nach, steckte die Beeren zurück in seine Tasche und stand auf. Die letzten Sonnenstrahlen krochen über die Hänge und liefen über die große Ebene, fort zum Horizont.
Dann kam die Nacht. Nev entdeckte die erste Funktion des glühenden Zapfens: Er beleuchtete mit seinem flackernden Licht den düsteren Pfad vor seinen Füßen.
Immer dunkler wurde es um ihn herum. Seine Füße taten weh und seine Augen fielen ihm langsam zu. Stück für Stück kroch der kleine leuchtende Punkt den riesigen Berg hinauf.
Irgendwann merkte er die Anstrengung kaum noch, wie automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Er wurde langsamer als der Pfad noch steiler wurde. Ganz im Gegensatz zu ihm schien der Gnobbel auf seiner Schulter keine Müdigkeit aufzuweisen. Er hielt ebenfalls einen kleinen glühenden Zapfen in die Höhe, um den Weg vor ihnen auszuleuchten.
Der Himmel war wolkenlos und kühles Mondlicht erzeugte eine sonderbare Atmosphäre. Dann geschah etwas Merkwürdiges: Als er verschnaufte und nach hinten über die weite, dunkle Ebene blickte, sah er winzige leuchtende Punkte am Horizont aufsteigen. Er blieb stehen und beobachtete den Himmel. Ein Band aus Sternen zog auf und wanderte in die Höhe.
„Es ist Weles Nacht!“, hörte er den Gnobbel ehrfürchtig vom Wegesrand rufen.
„Was ist das?“, fragte Nev.
„Weles! Sie bewegt die Sterne!“
Der Gnobbel war ganz aus dem Häuschen. „Ich habe nie daran geglaubt! Sie sieht uns!“
Nev zog es vor, nicht weiter zu nachzufragen und starrte stattdessen weiter staunend auf das Himmelsschauspiel. Nach einer Weile fasste sich Hal wieder.
„Wenn wir die Nacht durchwandern, können wir morgen Nacht den Gipfel erreichen!“, plante er und kletterte zurück auf Nevs Schulter. „Niemals wandere ich bis morgen durch!“ protestierte der ermattet.
Er war müde und fertig. Die letzten Tage war er gewandert, zwar mit wenig Gepäck aber auch wenig Essen und einem Gnobbel auf der Schulter. Wenn er jemals wieder zurück nach Hause wollte, dann musste er dieses Gebirge überqueren, aber dafür brauchte er Schlaf.
Eine Stunde verging und eine neue brach an. Ohne wahrnehmbare Bewegung zog der Stundenzeiger seine Bahn durch die Nacht. Nev begann, kleine Pausen zu machen. Schließlich war er einfach zu müde. „Ich kann nicht mehr“, sagte er und setzte sich an den Wegesrand. „Es ist doch erst Mitternacht!“, merkte der Gnobbel verständnislos an. „Genau.“, sagte Nev und legte sich in kühles Gras, „Zeit, um zu schlafen.“
Das gefiel Hal nicht. „Wir müssen weiter!“ beharrte er, doch Nev schloss die Augen und legte die Hände als Kopfkissen unter seinen Hinterkopf. „Morgen“, erwiderte er schlicht. Hal sprang auf und ab. Er schien wütend. „Du brauchst mich, um Nahrung zu finden. Ohne mich verhungerst Du.“
„Ich weiß“, sagte Nev, der wenig Lust auf eine Diskussion hatte, „Na und?“
„Dann wäre es für Dich das Beste, wenn Du mir folgst!“ und mit diesen Worten lief der Gnobbel los. Nev schlug die Augen auf und rappelte sich mühsam auf: „Spinnst Du? Komm zurück!“, doch das kleine Wesen lief den Pfad entlang. Es blieb ihm nichts anderes übrig – er musste ihm folgen.
Da sah er, wie das Sternenband außer Sicht verschwand. Ein sonderbares Verlangen überkam ihn. Er wollte, dass es zurückkam. Er wollte es sehen. Vielleicht hatte der Gnobbel recht, vielleicht konnte man es von weiter oben sehen? Er rannte los, gegen die Steigung an, dem Gnobbel hinterher.
Er war nicht viel weiter, da stolperte er. Wie in Zeitlupe fiel er und landete auf dem Boden. Er hatte sich mit den Händen abgefangen und zum Glück nicht verletzt. Für einen Moment wollte er aufstehen und weiterlaufen, doch dann überkam ihn die angesammelte Müdigkeit mit einem gewaltigen Schlag.
Mitten auf dem Pad schlief er ein. Hinter dem Berg zog Weles Band kreise am Himmel und wartete. Sie hatte Geduld, im Gegensatz zu dem kleinen Gnobbel, der noch weiter den Pfad hinaufrannte. Dann schließlich überkam auch ihn die Müdigkeit und er musste sich hinlegen.
Niemand sah die kleine Träne, die seine Wange hinabrollte.
Das Ende von Kapitel 4 bedeutet den Anfang von Kapitel 5.