12:30 Uhr
Wettermeldung: Dauerregen

Das außergewöhnlich hohe Schulgebäude.
Die Schulglocke läutete, doch das große Tor blieb vorerst geschlossen. Drinnen tummelten sich Schüler. Allesamt kramten sie in ihren Schultaschen nach Regenschirmen oder zogen ihre Regenjacken noch ein wenig fester. Es war ein unschönes Wetter. Eigentlich, so war man sich einig, sollte so ein Wetter höchstens im Winter erlaubt sein. Und auch nur, wenn es vorher um Erlaubnis bat.
Doch es war kein Winter, sondern Frühling. Zumindest bis zu dem seltsamen Tage vor einer Woche, bei dem sich das Wetter entschieden hatte, sich daneben zu benehmen. Keine Minute hatten die Wolken Pause gemacht. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schütteten sie unaufhörlich Regen auf die Schule, die Straße zur Schule und eigentlich auf’s ganze Städtchen.
Nicht einmal nachts machten die Regenwolken eine Pause. Die Einwohner hatten sich längst an das stete Prasseln gewöhnt, mit dem sie abends einschliefen, nur um es morgens beim Frühstück immer noch zu hören.
In der Ecke des Schuleingangs hatte eine kleine Gruppe die Köpfe zusammengesteckt. Im Allgemeinen kramen und reden bemerkte sie niemand. Außer Sonja. Als neue Lehrerin an der Schule war sie interessierter am Pausengeschehen, als an fadem Kaffee im Lehrerzimmer und so stand sie am obersten Absatz einer Treppe und sah aufmerksam auf das Treiben hinab.
Dann löste sich die Gruppe auf, ihre vier Mitglieder zogen die Kapuzen so tief runter wie es ging, bemerkten dann, dass sie so nichts mehr sahen und schoben sie wieder ein Stückchen höher. Dann drängelten sie sich durch die Menge und verschwanden durch die große Holztür nach draußen. Durch ein Fenster beobachtete Sonja, wie die vier in auffällig unschuldiger Manier das Gelände verließen. Sie schaute ihnen nach. Was hatten sie vor?
16:15 Uhr
Wettermeldung: Dauerregen
Von der Straße aus sah das alte Gelände sehr verlassen, sehr leer und sehr langweilig aus. Das war der Grund, warum die meisten Leute, ohne einen einzigen Blick darauf zu verschwenden, einfach vorbei gingen. Das war die Zauberfähigkeit der alten Fabrik: Sie war quasi unsichtbar für die Leute und wurde zudem direkt wieder vergessen. Genau dieser Besonderheit wegen, hatten die vier ihre Hängematten, einen Wasserkocher und jede Menge nützliches Zeug hergeschafft. Nachmittags trafen sie sich hier, schon seit der Mittelstufe. So auch heute.
Len ging nachdenklich auf und ab, Camila versuchte einen Regenschirm an einem der kaputten Fenster zu befestigen. Die anderen Zwei hantierten mit Eimern und allerlei Gartenwerkzeug. Charlie hatte mehrere Besenstiele aneinandergebunden. Carolin befestigte eine Farbrolle am Ende und mischte nun Farbe. Dann war alles bereit, fehlte nur noch: „Wie kommen wir eigentlich oben drauf?“ fragte Camila. Die anderen sahen sie an. Sie hatte recht, wie wollten sie es anstellen? Len meldete sich „Das finden wir spontan heraus. Wird schon klappen.“
Das klang wenig durchdacht, doch etwas anderes blieb ihnen wohl nicht übrig. Sie verteilten die gebastelten Utensilien auf zwei Schubkarren und verließen die alte Fabrik.
17:45 Uhr
Wettermeldung: Dauerregen
Einen kleinen Fußmarsch später standen sie vor dem hohen Zaun, der die Schule und den Innenhof einrahmte.
„Und jetzt?“
Die Frage war berechtigt. Um diese Uhrzeit waren die Türen und Tore der Schule abgeschlossen. Vor den steinernen Sockeln des Zauns hatten sich große Pfützen gebildet, als wäre die Schule von einem Wassergraben umgeben. Doch Len grinste: „Kommt mit“ und er führte sie den Zaun entlang, um das Gelände herum. „Die Lücke habe ich schon in meinem ersten Jahr hier entdeckt.“ Mit diesen Worten bog er eines der nassgeregneten Zaunelemente zu Seite. Es war groß genug zum Hindurchklettern, die Schubkarren ließen sie zurück. So mussten sie ab dort ihr Gepäck selbst weitertragen. Vom Innenhof her näherten sie sich nun dem Gebäude, Charlie und Camila gingen mit den Besenstielen voraus, Len und Carolin mit den Farbeimern hinterher. Der Regen wurde noch einmal heftiger, als sie vor der Fassade zum Stehen kamen.
„Und jetzt?“ Carolin hatte ihre Kapuze fast bis zum Kinn gezogen, doch ihre Frage drang laut und verständlich durch den Stoff. Auch Len und die anderen blieben stehen und schauten am hohen Gebäude hinauf.
Da sah Charlie eine hektische Bewegung an einem der Fenster im zweiten Stock. „Da ist jemand!“ sagte er. Tatsächlich, die Gardine bewegte sich noch etwas. „Hallo?“ rief Len.
Stille. Bis auf den prasselnden Regen, in dem sie innehielten. „Da war wer, ganz bestimmt!“ beteuerte Charlie. „Vielleicht der Hausmeister?“ meinte Carolin. Dann ging eines der unteren Fenster auf und zum Vorschein kam: „Sonja?!“ Camilas Ruf drang nur spärlich durch den lauten Regen.
„Was macht ihr denn hier?“ erwiderte die Lehrerin, als die vier schwer beladen auf sie zukamen. „Wir müssten in’s Gebäude hinein, wenn sie gestatten“, sagte Len betont sachlich.
Sie zog eine Augenbraue hoch, betrachtete die Farbeimer und Besenstiele und entschloss sich, auch die zweite Augenbraue hochzuziehen. „Wozu genau?“ fragte sie langsam. Niemand sagte etwas. Die Wahrheit würde sie bestimmt nicht glauben. Eine Lüge aber genauso wenig. Darum entschloss sich Charlie, keines von beiden zu wählen und sagte, ohne auf die Frage einzugehen: „Wir versprechen ihnen, dass wir nichts Dummes anstellen. Außerdem versprechen wir ihnen noch etwas zweites: Morgen gibt’s wieder gutes Wetter!“
Ihre Augenbrauen wanderten wieder an ihren gewöhnlichen Platz und sie überlegte. War es überhaupt erlaubt, Schüler um diese Uhrzeit in die Schule zu lassen? Auf der anderen Seite war sie ziemlich neugierig auf das, was die vier wohl vorhatten. Sie besann sich auf einen Satz, den ihre Tante immer sagte. Die war Lehrerin an der großen Stadtschule gewesen: „Freunde dich lieber mit den Schülern an als mit den Regeln!“
Vielleicht hatte sie recht? Sie musste recht haben, sonst würde sie den Satz doch nicht so oft sagen.
„Na gut. Ich vertraue euch. Für wie lange müsst ihr denn in’s Gebäude?“
Len ging den Plan im Kopf noch einmal durch: „Zwei Stunden müssten genügen“, teilte er ihr mit.
Die Lehrerin schaute auf ihre Uhr: „Bis dahin ist es längst dunkel“ stellte sie fest. „Glauben Sie uns, wir finden schon den Weg nach Hause“ erwiderte Camila mit einer abschwächenden Handbewegung. Schließlich ließ sich Sonja überreden. Sie öffnete ihnen die Tür zum Pausenhof und tropfnass wie sie waren huschten sie in’s Gebäude. Ohne einen Blick zurück erklommen sie das Treppenhaus, bis hoch zum Dachboden. Die Lehrerin wollte ihnen hinterher, doch als sie oben angelangte, stand sie vor einer von innen verkeilten Tür. Nun geriet sie doch in Panik. War sie auf die Schüler hereingefallen? „Keine Bange“ ertönte Carolins Stimme von drinnen, „aber unser Vorhaben klappt besser in der Abwesenheit von Lehrpersonal“
Drinnen hatten Len und Charlie bereits eines der Dachfenster geöffnet und einen Tritt herbeigeschafft. Wie von Len erwartet gab es einen Haufen Seile im hinteren Teil des Dachstuhls.
Sorgfältig sicherten sie sich ab, dann klettern sie hinaus auf’s Dach. Carolin reichte die Besenstiele nach, dann kletterte sie selbst hinterher. Camila blieb drinnen und hielt die Farbe bereit.
Dann begann die Arbeit. Es war wirklich anstrengend, der Regen war so hoch oben auf dem Dach noch stärker als im Schulhof. Mit der Zeit wurde es dunkel. Carolin schaute auf ihre Armbanduhr: „Wir haben noch 20 Minuten, dann sind die zwei Stunden um“ verkündete sie. „Wird auch Zeit das wir fertig werden, ich seh‘ gar nicht mehr was ich tue“, erwiderte Len.
Dann endlich waren sie fertig. Len leuchtete mit seiner Taschenlampe, um das Werk betrachten zu können. „Im Hellen sieht das sicher großartig aus!“ rief Camila vom Fenster aus.
Müde kletterten sie zurück, stapelten die leeren Eimer in einer Ecke und legten die Besenstiele dazu. „Die können wir wann anders wieder abholen“ sagte Charlie müde.
Sie hoben den Keiler unter der Türklinke auf und öffneten vorsichtig die Tür. Da erwartete sie eine Überraschung: Sonja döste tief und fest, den Kopf an’s Geländer gelehnt. „Die Arme hat wohl die ganze Zeit gewartet“ flüsterte Carolin. Leise schlichen die vier an ihr vorbei, die Treppe hinunter und durch die Pausenhalle. Die Tür war noch offen.
20:21 Uhr
Wettermeldung: Starkregen der auf’s Schuldach trommelt
Sonjas Kopf rutschte vom Geländer weg und sie wachte erschrocken auf. Sie sah auf ihre Armbanduhr und dann zu der offenen Dachbodentür. Sie rappelte sich auf und ging hinein. Eines der Fenster war auf, doch von den Schülern war keine Spur. Sie schaute durch die Luke, aber in der Dunkelheit war nichts zu sehen. Sie waren doch wohl nicht auf’s Dach geklettert?
Zurück im Treppenhaus sah sie nasse und zum Teil bunte Fußabdrücke auf den Stufen. Na, zumindest waren sie offensichtlich heile wieder zurückgekommen.
08:00 Uhr
Wettermeldung: Blauer Himmel
Vor dem Eingangstor hatte sich eine große Schar Schüler versammelt. Hier und da stand auch ein Lehrer, der mit offenem Mund in die Höhe blickte. Immer mehr wurden es, bis schließlich die ganze Schule im Hof versammelt stand. Niemand konnte es wirklich glauben. Frierend unter ihren Regenschirmen versteckt waren sie diesen morgen durch die Straßen zur Schule gegangen. Doch hier, ganz plötzlich, war ein Fleck blauer Himmel! Ringsherum war der Himmel weiterhin ein Getümmel aus grauen Wolken, nur über dem Schulgebäude schien es sich das Wetter anders überlegt zu haben.
Ganz am Rande der Menge standen vier der älteren Schüler, allesamt offensichtlich ungemein müde. Sie schafften es kaum, gerade zu stehen. Dann kam auch Sonja. Am Schultor blieb sie stehen und sah die versammelte Menge – dann schaute auch sie zum Himmel. Sie staunte nicht schlecht, doch fasste sich schnell. Die Augen zu Schlitzen verengt scannte sie die Schülerschar. Dann erblickte sie die vier Gähnenden, die abseits am Zaun lehnten. Sie ging hinüber zu ihnen. „Ihr hättet mich ruhig wecken können“ zischte sie aus dem Mundwinkel.
Charlie wollte etwas Schlagfertiges sagen, doch er musste gähnen. Darum fuhr Sonja fort: „Wie habt ihr das zustande gebracht?“ Sie deutete nach oben.
„Ach das?“ fragte Camila beiläufig und schaute auch zum Himmel. „Nun“, meinte Len, „Wir wissen nicht wie lange es hält aber…“ auch er musste gähnen.
„Aber?“ hakte Sonja nach.
„Aber für’s erste sollte es reichen“ vollendete Carolin den Satz.
Als die Lehrerin immer noch verdutzt dreinblickte, erklärte Len: „Wissen sie, es ist das erste Mal, dass wir den Himmel angemalt haben. Wir wissen noch nicht, wie lange es hält.“
Camila fügte hinzu: „Irgendeiner musste ja etwas gegen dieses Wetter unternehmen. Das waren dann halt mal wir.“