Notar Möller

Notar Möller ist ein guter Mann. Sehr fleißig. Immer arbeitet er. Manche behaupten, er habe nie etwas anderes gemacht. Er unterschreibt wichtige Dokumente.

Riesenflamingos sind magnetisch

Gerade kam seine Sekretärin mit einem Stapel ganz besonders wichtiger Dokumente in sein Büro. Doch Notar Möller hat gerade ganz andere Sachen im Kopf. Sehr ungewöhnlich für ihn, denn eigentlich ist ihm die Wichtigkeit der Dokumente bewusst.

Gerade hat er sich dazu entschlossen, ein Abenteuer zu erleben. Vielleicht sogar etwas, das noch aufregender ist, als es seine Dokumente sind.

Er nimmt also seinen Mantel, seinen Schirm und seinen Hut von der Garderobe: „Ich stürze mich in ein Abenteuer, Fräulein Sabline.“

Seine Sekretärin schaut ganz verwundert und blickt dem Notar Möller mit Fragezeichen in den Augen hinterher. Der verlässt jetzt einfach die kleine Kanzlei an der Salbeu Straße 46.

Er reckt die Nase, atmet den Wind der Freiheit und überlegt, wo wohl das Abenteuer ist.

Richtung Amelienplatz, denkt er. Ja, da muss es sein. Geschwind geht er mehrere Straßen entlang. Tatsächlich. Hier ist es. Das Abenteuer heißt „Luchs & Sohn“. Es ist eine Bäckerei. Hier war er noch nie. Aber er erinnerte sich wage, mal ein Dokument für Herrn Luchs unterschrieben zu haben. Es war ein sehr wichtiges. 

Er stellte sich der ungewohnten Umgebung und betrat die Bäckerei. Abenteuerlich.

Hinter der Theke stand ein junges Fräulein. Sie sah auf, als die Ladenglocke klingelte.

„Ah, Herr Möller“, sagte sie, „gut, dass Sie da sind.“

„Hallo“, sagte Notar Möller. Ohne seine Dokumente fühlte er sich ein wenig unbeholfen, doch nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: „Wo ist es denn, das Abenteuer?“

„Gleich hinter der Backstube, folgen Sie mir.“

Er sprang abenteuerlich an den Kronleuchter und schwang sich über die Theke. Dabei ging sehr viel kaputt. Vor allem der Kronleuchter. Er folgte ihr in die rötlich glimmende Backstube. Sein Schatten flackerte an der Wand. Sehr aufregend. Dann öffnete Sie eine Tür, und bedeute ihm hindurch zu gehen. Vor ihm erstreckten sich eine riesige Lagerhalle. Er hätte schwören können, dass es in der ganzen Stadt keine so große Lagerhalle gäbe. Das entsprechende, sicherlich ebenfalls sehr große Dokument, wäre ihm aufgefallen.

In ihr türmten sich Berge aus Bons. Kassenbons. „Das sind die Bons“, sagte Sie. Er nickte wissend: „Ja, ich sehe die Bons.“

Für einen Moment schwiegen sie. Dann sagte das Fräulein: „Wir müssen sie vernichten. Alle. Wir müssen sie in die feurigen Flammen des Ebers-Vulkans werfen.“

„Natürlich“, sagte Notar Möller, „wohin auch sonst.“

Behände nahm das Fräulein einen kleinen Ring aus ihrer Tasche, legte ihn sachte auf den Boden und drehte ihn. Er kreiselte und ein sonderbares Sirren ging durch die Halle. „Paketus!“ flüsterte sie. Die Kassenbons begannen, sich erst zu stapeln und anschließend zu zwei großen Paketen zusammen zu schnüren.

Dann verklang das Klingen des Zauberrings.

Auf der anderen Seite des Lagers warteten zwei Riesenflamingos. Riesenflamingos haben zwei Köpfe und man kann auf ihnen fliegen. Und sie sind riesig.

Sie banden die Pakete an die riesigen Krallen und kletterten auf den Rücken der Tiere. Die Federn boten nichts, woran man sich hätte festhalten können. Zum Glück kann man von Riesenflamingos nicht runterfallen, das liegt in ihrer Natur. Sie sind magnetisch.

Mit einem mächtigen Flügelschlag stießen sich die Flamingos ab und Notar Möller und das Bäckerei Fräulein stiegen in die Höhe. Gerade hatte Möller die kristallene Glaskuppel über ihnen entdeckt, als der Adler auch schon hindurch stürmte. Eine Unmenge Scherben zerriss seinen gepflegten Anzug. Es war sehr abenteuerlich.

Möller sah nach unten. Die Stadt wurde kleiner, weil er immer höher stieg. Das Bäckerei Fräulein flog voraus, in Richtung der fernen Berge. Dann plötzlich tauchte ein Flugzeug auf. Ein sehr großes, mit Touristen darin. Dicht vor ihnen. Zu dicht. Mit einem Schwung nach links versuchte Möller auszuweichen, doch zu spät: Die Tragfläche hatte den Flamingo am Kopf getroffen. Genauer gesagt am linken. Das Flugzeug taumelte, während Möller und der Adler unkontrolliert in die Tiefe fielen. Der linke Kopf war bewusstlos, jetzt funktionierte nur noch der rechte Flamingoflügel. Zum Glück fasste sich das Tier rasch und mit einem Ruck richtete es die Flügel neu aus und segelte wieder auf Kurs. Dabei war Möller aber verrutscht, sodass er jetzt unter dem Bauch des Flamingos hing. Fallen konnte er nicht, der Riesenflamingo war ja magnetisch. Kopfüber sah er die Bäckerin voraus fliegen und weiter hinten die Berge näherkommen.

Dann überquerten sie auch schon die erste Gebirgskette. Dahinter erstreckte sich ein ausladendes graues Tal, in der Mitte ein unerhört großer Stratovulkan. Möller erinnerte sich an das Dokument, das er unterschrieben hatte, als der Vulkan gebaut wurde und spürte die Hitze, die von ihm ausging. Zum Glück habe ich meine Uhr dabei, dachte er. Er griff in die Tasche und schaute auf die kleinen silbernen Zeiger: es war 13:56 Uhr. Er freute sich über den Informationsgewinn.

„Noch 2 Minuten, dann befinden wir uns genau über dem Vulkan“, hörte er die Stimme der Bäckerin rufen.

Die Hitze wurde jetzt unerträglich, gerade weil er an der Unterseite des Flamingos hing. Dann war es soweit. Hoch in der Luft, über einem Krater, der sich über mehrere Kilometer streckte, hörte er Sie rufen: „Jetzt!“

Er tippte seinen Adler an. „Abwerfen!“ befahl er und im gleichen Augenblick öffneten sich die Krallen und ließen das Tonnenschwere Kassenbon Paket in die Lava stürzen. Und auch Möller stürzte hinterher, denn die Magnetkraft von Riesenflamingos lässt kurz nach, wenn sie die Krallen öffnen. „Nein! Was mache ich denn nun?“ rief Notar Möller erschrocken. Es war sehr abenteuerlich.

Doch da wurde sein Fall auch schon weich abgefedert. „Das war aufregend“, keuchte er.

Die Bäckerin hatte ihren Flamingo geschickt gelenkt und ihn in einem Steilflug nach unten, der brodelnden Lava entgegenfliegen lassen. So hatten sie Notar Möller im Fallen auffangen können. „Ja, das war sehr knapp“, sagte die Bäckerin.

Langsam, mit kräftigen Flügelschlägen, kämpfte sich der Flamingo in die Höhe, hin zum Rand des Kraters.

Unter ihnen ertönte ein verdächtiges Geräusch. „Oh nein, der Vulkan bricht aus. Ohne Genehmigung“, bemerkte Notar Möller.

Er suchte panisch nach seinem Kugelschreiber.

„Flieg schneller, Riesenflamingo!“, feuerte die Bäckerin das Tier an. Mit einem Höllenlärm türmte sich Magma zu brodelnden Säulen auf, Gestein flog in die Höhe. Mit einem besonders schwungvollen Flügelschlag schoss der Flamingo über den Rand des Schlunds hinweg, ließ die Hölle hinter sich. Sie hatten es geschafft. Müde flogen sie zurück, in Richtung der Stadt, aus der sie gekommen waren. Notar Möller war schon ganz schläfrig zumute, als der Flamingo endlich durch die kaputte Glaskuppel segelte und sanft in die jetzt düstere Halle hinabstieg.

„Danke für die Hilfe“, sagte die Bäckerin, als sie gemeinsam zurück durch die Tür in die Backstube schritten. „Kein Problem, ich schicke ihnen die Rechnung.“

Doch wie Sie so dastand, überlegte er sich’s anders. Sie war wunderschön, wie ein Dokument. Wie ein schönes Dokument, eines aus handgeschöpftem 140g Papier. Er gab seinem Herzen einen unauffälligen Ruck. „Wissen Sie, wenn sie mögen erlasse ich ihnen die 19 Prozent Mehrwertsteuer, die eigentlich auf Abenteuer anfallen.“

„Oh, das ist aber sehr nett von ihnen. Ich kann ihnen die 4,47€ aber auch gerne einfach geben.“

Glück gehabt, dachte Notar Möller. Im Nachhinein war ihm sein Angebot doch etwas überzogen vorgekommen. Er fühlte sich sehr großzügig. Sehr abenteuerlich.

Auf dem Weg zurück zur Kanzlei pfiff er ein Liedchen. Seine Sekretärin empfing ihn, mit einem immer noch fragenden Blick. Er fragte sich, ob sie ihre Augenbrauen während seiner Abwesenheit die ganze Zeit so hochgezogen hatte. Das war sicher anstrengend gewesen.

„Ich habe ein Abenteuer erlebt“, sagte er.

„Ich habe die Dokumente auf ihren Schreibtisch gelegt“, erwiderte sie lächelnd.

„Sie haben dann jetzt Wochenende, Fräulein Sabline“, sagte er gönnerhaft und stapfte in sein Büro. Dann setzte er sich, nahm seinen Füllhalter und unterschrieb ein Dokument. Er nahm es in die Hand, las es noch einmal sorgfältig durch und heftete es in einen frischen Ordner. Der trug die Aufschrift “Die rechtlich genehmigten Abenteuer des Notar M. und zugrundeliegende Verträge”.

Er brauchte dringend Dokumente, um diesen Ordner endlich zu füllen.

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