Madame Wetter war ganz unten und lehnte sich mit verschränkten Armen in ihrem Gurt zurück. Sie musste nichts tun, außer möglichst ‚weder zu wackeln noch zu reden‘, wie sie von Maurice vorher angewiesen wurde. Schmollend folgte sie diesem Befehl.

Weit oben war Mo. Seine Aufgabe war es, zur Absicherung ihre Seile an die Büroks zu knoten.
Die Zieher hatten in der Tat den schwersten Job: Sie mussten die Seile permanent auf Zug halten, um die Gruppe Zentimeter für Zentimeter in die Tiefe zu lassen. Zum Verschnaufen hatten sie die Haken dabei, mit denen sie das Gewicht wortwörtlich vorübergehend in die gelbe Wand einhaken konnten.
So war in der Mitte und kümmerte sich um die Jüngeren. Zwei von ihnen hatten Höhenangst und So hatte alle Mühe, sie abzulenken. Mit unterdrückter Sorge in der Stimme redete sie den Kindern Mut zu, während sie selbst mit ihrer Höhenangst rang. Es war anstrengend, doch sie war auch ein bisschen stolz auf das Vertrauen, welches man ihr gab – Sie war schließlich selbst gerade erst volljährig geworden.
Von weiter unten schaute Maurice in die Höhe. Der Rand verschwand aus der Sichtweite, es gab kein Zurück mehr. Er allein hatte den Aufstieg gemeistert, doch mit Madame Wetter und den Kindern dabei war er unmöglich.
„Wo sind die großen Knöpfe und wann sind wir endlich an der Ebene?“ rief einer der Zieher. „Dummkopf!“, rief Madame Wetter nach oben. „Wir kommen doch vom Rand an der Seite, hier gibt es weder Knöpfe noch eine Ebene auf halber Höhe. Dieser Hang hier reicht bis zum Boden hinab.“
Dann neigte sich die gelbe Wand. Urplötzlich verschlug es ihnen allen die Sprache, als die Seile an den Klettergurten zogen und sie außerhalb der Reichweite in der Luft ruderten. Es gab ein unheilverheißendes Geräusch und eine der Sicherheitsnadeln rutschte samt Bürok aus der Wand und viel an ihnen vorbei in die Tiefe. Den beiden Ziehern rutschten die Seile durch die Finger, doch geistesgegenwärtig schleuderte einer von ihnen seinen Haken in die Wand. Er verkeilte sich in einer ausgefranzten Masche und verhinderte den Absturz. Jetzt begann die riesige Wand zu vibrieren, begleitet von einem ohrenbetäubenden quietschenden Kratzen. Das ganze Seil wurde durchgeschüttelt. Dann stoppte die Bewegung so abrupt wie sie begonnen hatte und die Wand kippte zurück. Unsanft schlugen sie dagegen und Madame Wetter beschwerte sich lauthals.
Die Treter trieben hektisch Sicherheitsnadeln in die Wand, während eine weitere vom Rütteln losgelöste Bürok in die Tiefe raste.
So schaute voller Furcht nach oben. Am hohen Ende des Seils sah sie Mo, der sie an den anderen vorbei ansah. Sie versuchte eine Botschaft in dem unerreichbaren Gesicht zu lesen, doch in dem Moment rief Maurices Stimme: „Wenn die Sicherheitsnadeln angebracht sind, geht es unverzüglich weiter!“
Ein Ruck in den Seilen, dann sanken sie weiter in die Tiefe.
Eine Ewigkeit und zwei Minuten vergingen, in denen nichts weiter passierte als die Abfolge aus Ziehen, Sicherheitsnadeln anbringen, Bürok einhaken, Sicherungsseil einfädeln und das Seil weiter hinablassen.
Eines der Kinder hatte So gerade gefragt, wie lange es denn noch dauern würde, da rief Maurice von unten: „Der Boden ist in Sicht!“
Das brachte neuen Schwung in die Kletterer. In großen Stücken ließen die Zieher jetzt das Seil ab, die Treter vergrößerten den Abstand zwischen den einzelnen Sicherungen. Immer schneller ging es hinab, sodass das Seil anfing hin und her zu schwingen. „Was macht ihr denn da oben? Spielt ihr Schwerkraft?“ ertönte Madame Wetters Stimme von unten. Auch Mo meldete sich: „Habt ihr Nadeln ausgelassen? Wo soll ich denn hier oben die Büroks dran befestigen, wenn keine Nadeln in der Wand sind?“
Maurice sah auf. „Was macht ihr denn da?“ rief er zu den Tretern. In diesem Moment hörte er reißenden Stoff. Während sie weiter in der Luft hingen, sauste das Sicherungsseil neben ihnen in die Tiefe und zog eine Menge Büroks und Sicherheitsnadeln mit sich. Dann gab es einen Ruck und sie sackten abrupt einen guten Zentimeter in die Tiefe. „Spinnt ihr?“ schrie Maurice aufgebracht.
„Verdammt, wir dachten, dass ein paar weniger Nadeln locker ausreichen würden“ rief einer. Ein Knacken ging durch das Seil. Jetzt ertönte Mos Stimme: „Bringt so schnell wie möglich alle Sicherheitsnadeln an, wir haben kein Sicherungsseil mehr und hier löst sich eine Bürok!“
Die Treter schauten erschrocken nach oben, dann gab es einen weiteren Ruck im Seil. So hielt es nicht mehr aus. Ihren Gurt vom großen Seil ausgeklinkt zog sie sich mit all ihrer all ihrer Kraft am Seil empor, klinkte ihren Gurt wieder ein, riss den perplexen Tretern die Nadeln aus der Hand und rammte zwei von ihnen in die Wand. „Ihr beide seid mir egal, aber Ich für meinen Teil möchte gerne heile unten ankommen!“ und sie schnappte sich zwei Büroks, um das Seil sichern. Dann gellte ein Schrei durch die Luft und in diesem Moment passierte etwas Besonderes in ihrem kleinen Köpfchen.
Die Zukunft selbst war es, in all ihrer Pracht, die in ihre Gedanken trat. Alle Träume hatten sich versammelt, um im Zeitraum einer Millisekunde ihre eigene Rettung zu übernehmen. Sie veranlassten So, ohne aufzublicken nach einer Sicherheitsnadel zu greifen und sie mit beiden Händen in die Höhe zu werfen.
Dort griff Mo nach der Nadel, stach sie so tief es ging in die Wand und fädelte das Seil dadurch. Es war ein Zeitraum von Sekunden, der so über das Schicksal von 15 kleinen Männchen entschied. Die Nadel weiter oben löste sich und übertrug das gesamte Gewicht auf die kleine Nadel, die Mo gerade noch rechtzeitig angebracht hatte. Sie bog sich unter dem Gewicht und hätte So nicht zuvor die beiden Büroks angebracht, wäre sie wohl gebrochen.
Eine lange Stille folgte, in der die kleinen Köpfe die knappe Flucht verarbeiteten. Dann donnerte Madame Wetters Stimme durch die Luft, dass die Zieher und Treter vor Angst und schlechtem Gewissen am liebsten wieder nach oben geklettert wären.
Dann ging es weiter und der Boden kam immer mehr in Sicht. Erst konnte man nur Hügel erkennen, dann kamen mehr und mehr Details in Sicht.
Madame Wetter erreichte als erste den Boden. Wie eine Astronautin setzte sie feierlich ihren Fuß auf den festen Grund und verlangt prompt nach ihrem Stock. Maurice griff an seinen Rucksack und reichte ihn ihr, dann landete er selbst. Nach und nach erreichten sie so den Grund. Als letzter Mo, den So sofort in ihre Arme schloss, während hinter ihnen Madame Wetter mit den Ziehern und Tretern abrechnete. Dann standen So und Mo plötzlich im Mittelpunkt und schauten, als Lebensretter gefeiert, recht verlegen drein.
Schließlich wurde es ruhig und sie sahen sich zum ersten Mal auf dem Boden um. Sie sagten nichts, damit man die Freude in ihren Herzen besser hören konnte. Sie hatten das triste Land hoch oben hinter sich gelassen und sahen sich umgeben von weitläufigen Maschen, und weit hinten warteten ganze Plantagen voll Krümel auf sie. Madame Wetter räusperte sich: „Ich glaube, wir müssen jemandem Danken.“
Da, etwas abseits, stand Maurice. Im Trubel hatten sie ihn ganz vergessen. Er sah auf, als Madame Wetter sprach. „Es tut mir leid, dass ich euch alle in Lebensgefahr gebracht habe“, sagte er sehr leise.
Da meldete sich So: „Nein Maurice, Du hast uns nicht in Gefahr gebracht. In Gefahr gebracht haben uns die Treter und Zieher“, und sie gab einen bösen Blick an die vier.
„Du im Gegensatz“, fuhr sie fort, „hast uns eine Zukunft ermöglicht!“ und bei diesen Worten trat ein Leuchten auf sein kleines Gesicht. Für einen Moment war er der glücklichste Floh der Welt, auch wenn eben gerade sein Heimatsessel verschoben wurde.
Teil 2 von 2.