
Herr Saller war die meiste Zeit über ein ruhiger Mann. Er trug einen gestreiften Anzug, den er nur Nachts ablegte und dann, wenn es die Situation unbedingt erforderte, wie zum Beispiel im Freibad. Aus diesem Grund ging Herr Saller so gut wie nie ins Freibad und auch sonst mied er Orte, die es erforderten den Anzug abzulegen und gegen angemessenere Kleidung auszutauschen.
Wenn er am frühen Nachmittag von der Arbeit heim kam und durch die Wohnungstür trat, galt sein erster Blick stets dem Garderoben Spiegel. Dort konnte er seinen Anzug im schmeichelnden Licht der Flurlampe betrachten und nickte jedem der Streifen auf dem Sakko voll Glückseligkeit zu, bevor er aus den Schuhen schlüpfte. Danach freute er sich auf seinen Kaffee. Den pflegte er jeden Tag zu dieser Zeit zu trinken und ein eigens von ihm angeschaffter und programmierter Kaffee Vollautomat sorgte dafür, dass das aromatische Heißgetränk ganz von allein zur passenden Zeit gebrüht wurde.
So stapfte er voll Vorfreude durch den schmalen Flur, doch da blieb er unvermittelt stehen. Er wollte wie immer dem Duft des feinen Röstaromas in die Küche folgen, doch da war nichts. Nur kühle Luft, selbst als er seine Nase versuchsweise ein bißchen nach links und ein bißchen nach rechts reckte und erneut schnüffelte: Der erwartete Kaffee Duft blieb aus.
Sofort war Herrn Saller alles klar: Einbrecher. Einbrecher mussten, so war er sich sicher, mithilfe einer der Feuerwehr entwendeten Drehleiter durch das Dachfenster eingestiegen sein. Von dort war es ein Kinderspiel, durch das Treppenhaus des Mehrparteien Hauses hinunter in seine Wohnung im Erdgeschoss zu gelangen. Doch wie waren sie durch die Wohnungstür gekommen?
Lüftungsschächte, murmelte Herr Saller wissend. Einmal hindurch geklettert mussten die Bösewichte wohl in die Küche geschlichen sein, um dort nicht nur die Vorratstüte voll Kaffeebohnen zu stehlen, sondern auch – gierig wie diese Gauner gewiss waren – das Mahlgut aus dem Vollautomaten zu kratzen.
Die Geruchsleere die in der Luft hing ließ Herrn Saller erschaudern. Was waren das für Strolche, die seine Wohnung so ausgeräumt zurückließen?
Nun war es wichtig, wie Herr Saller wusste, richtig vorzugehen. Sollte er zuerst die Polizei alarmieren oder der Feuerwehr Bescheid geben, dass wohl Unbekannte bei ihnen eine Drehleiter entwendet haben müssten? Was war, wenn die Fremden noch in der Küche standen, sich in einem Schrank versteckten? Herr Saller sah argwöhnisch zu der leicht angelehnten Tür hinüber. Vielleicht standen sie dahinter, zu Stein erstarrt vor Schreck über seine vielleicht unerwartete Heimkehr. Vielleicht, dachte Herr Saller, war es eine gute Idee, sich zu bewaffnen.
Mit angehaltenem Atem schlich er hinüber zum Garderobenschrank und nahm nach kurzem Stöbern die noch nie benutzte und etwas angestaubte Dose mit dem Pfefferspray heraus. Damit schlich er zur Küchentür, die er mit einem Satz aufstieß und hindurch sprang. „Karate“ schrie er, stieß gegen den Toaster und stolperte in den Raum hinein, als ein brennender Schmerz in seine Augen trat. Er heulte auf und ließ die Dose fallen. Doch bevor er sich mit der Hand ins Gesicht fuhr besann er sich eines besseren: „Nehmt euch in Acht!“ rief und fuchtelte wild mit den Armen umher, wobei er abwechselnd nach links und rechts sprang, „ich seh euch! Haut bloß ab, ich mach euch kurz und klein! Ich kann euch genau sehen, ich habe kein Pfefferspray in den Augen! Seid vorsichtig!“
Niemand sagte etwas. Das lag zum einen an der Tatsache, dass außer Herrn Saller niemand in der Küche zugegen war, zum anderen daran, dass Herr Saller aufgehört hatte zu schreien und nun leise jammernd seinen Kopf in die Spülmaschine hielt, was er für seine Augen als äußerst wohltuend empfand.
Nach einer Weile konnte er das linke Auge wieder vorsichtig öffnen und schwammig seine Umgebung erkennen. Er raffte sich auf und sah sich um. Er war allein und keine Spuren deuteten auf ungehobelte Eindringlinge hin. Dann fiel ihm etwas ins Auge: Der Kaffee Vollautomat.
Das Gerät blinkte und Herr Saller trat näher heran. Ein rotes Lämpchen wies auf einen internen Fehler hin und das Display verkündete stolz: „Brühvorgang abgebrochen. Bitte Schmalbeine austauschen.“ Er stutzte und rieb sich die Augen, wodurch alles nur noch schwammiger wurde, dann schaute er erneut: „Bitte Schmalzbirne austauschen!“ las er laut. Ja, dachte er, das muss es sein.
Der nächste Tag war ein Samstag und Herr Saller brauchte nicht zur Arbeit zu gehen. Das kam ihm sehr gelegen, denn er bereitete sich auf ein Abenteuer vor. Er stand vor dem Spiegel im Flur und rückte seinen Anzug zurecht. Dabei schaute er sein Ebenbild aus zusammengekniffenen Augen an, die ziemlich gerötet und allgemein etwas unzufrieden wirkten. Eine halbe Stunde später trat er durch die Tür des Reisebüros am anderen Ende der Stadt.
„Guten Tag“, sagte er, „Saller mein Name. Ich trage einen sehr ordentlichen, gestreiften Anzug. Bitte nehmen sie das zur Kenntnis.“
Mit diesen Worten nickte er der Dame hinter dem Schreibtisch zu und setzte sich auf einen viel zu kleinen Stuhl vor dem Tresen, von dem aus er etwa einen halben Meter zu ihr hinauf schauen musste.
Die Frau sah auf ihn herab. „Hab gerade Pause. Haben sie bitte 10 Minuten Geduld.“
Da er Geduld hatte, nickte Herr Saller höflich und versuchte dann in dem flachen Sesselchen eine bequemere Sitzposition zu finden, doch dabei verrenkte er sich etwas, sodass er nun noch ungemütlicher saß. Er traute sich nicht, noch mehr hin und her zu rutschen und blieb etwas schief sitzen. Die Frau starrte ihn an.
Nach einer Weile überlegte Herr Saller, dass die 10 Minuten wohl um sein müssten und räusperte sich. „Ich möchte eine Reise buchen“, sagte er und versuchte ein Lächeln.
Die Frau schaute aus dem Fenster. „Tatsächlich?“ fragte sie und biss desinteressiert in ein belegtes Brötchen. Soweit er das von dort unten beurteilen konnte sah es so aus, als sei es mit der gleichen Sorte Butterkäse belegt, die auch Herr Saller immer kaufte, doch er sah davon ab, sie darauf anzusprechen. Er war schließlich mit einem wichtigeren Anliegen hier. „Ja, eine Reise. Gibt es Reisen zu einem Ort, an dem Schmalzbirnen zu finden sind?“
„Nein,“ sagte die Frau, „aber kaufen sie eine Reise nach Italien. Die sind sehr gut.“ Sie tippte etwas, dann surrte ein Drucker. „Das sind dann einmal 1600,- inklusive Verpflegung wie bei allen Frühbucher-Angeboten.“
Sie reichte Herrn Saller eine zusammen getackerte Rechnung. „Bar oder mit Karte?“ fragte sie.
Herr Saller stutzte, dann erinnerte er sich daran, dass er introvertiert war und reichte ihr seine Kredit Karte, die sie mit beunruhigend flotter Handbewegung in ein Lesegerät steckte.
„Upsi, sind doch 16.000€. Hab mich eben wohl verlesen. Ist aber nicht schlimm, oder? Ist auch mit Hafenfahrt inklusive.“
Herr Saller nickte.
Zusammen mit seiner frisch gekauften Reise verließ er das Reisebüro und spazierte zurück nach Hause. Auf dem Weg überholte ihn ein kleiner Laster, der laut dem großen Werbedruck auf der Plane wohl Obst und Allerlei lieferte. „Da ist ja eine!“ rief er und starrte dem vorbeifahrenden LKW hinterher. Mit einem Satz sprang er los und wetzte ihm hinterher. Zwei Straßen weiter landete er völlig erschöpft auf dem Hinterhof eines nahen Discounters. Zwei Männer stiegen aus und das Rolltor der Warenannahme rollte auf.
Während einer der Männer einen kleinen Gabelstapler herbei holte, bemühte sich der andere, die Plane zu lüften. Darunter kamen sie zum Vorschein, nicht zu Hunderten, doch zu Tausenden lagen sie da, in Pappkästen auf Paletten gestapelt, alle mit dem Slogan: „Schmalzbirne – unsere Lieblingsbirne – DIE Birne der Saison!“
Herr Saller ging herüber, nahm all seinen Mut zusammen und explodierte beinahe vor Überzeugungskraft als er zu dem Mann, der die Plane aufrollte, sagte: „Moin, da sind se endlich da. Fahrt gut überstanden?“ Als der Mann nichts sagte, griff Herr Saller in eine der Kisten: „Lassen se mich mal sehen“, tönte er und da war sie: In seiner Hand hielt er eine Schmalzbirne. Jetzt musste er nur noch weglaufen.
Erschöpft und paranoid, die Polizei könnte einen Großeinsatz wegen ihm starten, ließ er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen. Einen Moment nahm er sich, um seinen Anzug im Spiegel zu betrachten, wobei er erfreut feststellte, dass er wieder richtig sehen konnte. Er eilte in die Küche und hielt die Birne triumphierend in die Höhe – zur großen Verwunderung der beiden maskierten Herren, die dort mit einem Brecheisen und seinem Kaffee Vollautomaten standen. Eine eher unangenehme Stille folgte.
„Ähmm..“ sagte einer der beiden, doch Herr Saller fand seine Sprache wieder: „Ganoven!“ rief er, „Stellt sofort den Vollautomaten zurück, genau dahin wo ihr ihn hergenommen habt!“
Die beiden sahen sich durch die Löcher in ihren schwarzen Strickmützen an. Dann nickte der eine. „Schon okay“, sagte er, „ist eh kaputt“. Damit deutete er auf das kleine Display. „Da steht ne Fehlermeldung. Die Mahlsteine müssen ausgetauscht werden.“