Less 1 Kapitel 2

Seit dem Treffen in der Höhle waren Zehn Jahre ins Land gezogen und Less saß vor ihrem Zimmerfenster. Genauer gesagt saß sie auf der schmalen Fensterbank und damit sie nicht von der schmalen Fläche abrutschte hatte sie einen Fuß auf die Heizung darunter gestellt und sich ganz nah an die Scheibe gelehnt. Sie sah nach draußen, wo gerade die Sommer Sonne hinter der hohen Hecke verschwand. 

Ein alter Bus.

Der Schatten kroch näher zum Haus und sie reckte den Kopf immer höher, um einen Blick die verbliebenen Sonnenstrahlen zu erhaschen. Sie war allein zuhause, ihre Zimmertür hatte sie abgeschlossen und auf dem Bett lag eine unachtsam darauf geworfenen Tüte mit Chips, die sie zuvor in dem kleinen Laden am Ortsrand gekauft hatte. Die anderen waren im Urlaub. 

Mit der Sonne sank auch ihre Laune und Less hatte das Gefühl, dass nicht nur das Licht sondern auch ein Stückchen ihrer Selbst hinter der verdammten Hecke lag. Es war ganz still und nur ihre Gedanken summten herum, als plötzlich ein deutliches Magenknurren ein baldiges Abendessen verlangte. 

Sie warf einen kurzen Blick auf die Zimmertür und wandte den Kopf dann wieder zum Fenster. Sie mochte das Haus nicht. Sie gruselte sich. Sie hatte das ungute Gefühl, nicht alleine zu sein, obwohl sie die einzige war, die hier seit Beginn der Ferien wohnte. Sie hatte alle Zimmertüren zum Flur geschlossen, doch das hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht, denn jetzt hatte sie Angst vor dem, was wohl hinter den verschlossen Türen lauern mochte. 

Je dunkler es Draußen wurde, desto größer wurde die Angst und schon jetzt graute es ihr vor dem Gedanken, durch den düsteren Flur ins Badezimmer zu gehen. 

Sie fischte die Tüte mit den Chips von ihrem Bett und schwang sich zurück auf die Fensterbank. Das sollte als Abendessen reichen. 

Langsam aber mit bestimmten Schritten kam die Nacht näher und irgendwann waren die Chips und als der Mond hinter einer Wolke hervor linste stand Less auf. Sie balancierte durch das Chaos auf dem Boden hindurch, hinüber zur Zimmertür, neben der sie auf den Lichtschalter drückte. Es blitzte kurz und von der Decke erklang ein „Zong“, als der kleine Draht in der Glühbirne riss. Less schaute wütend und erschrocken auf. 

Sie lauschte. Die Stille im Haus dröhnte in ihren Ohren. Eine kaputte Lampe war das Letzte was sie brauchte und für einen kurzen Moment überlegte sie, dass sie sich eher draußen im Garten die Zähne putzen würde als jetzt durch den dunklen Flur zum Bad zu gehen. Was, wenn das Licht dort ebenfalls kaputt ginge? 

Für eine Weile stand sie einfach nur da, vor der verschlossenen Tür, die eine Hand immer noch am Lichtschalter. Wut stieg in ihr auf. Warum war sie in dieser verdammten Situation? Warum hatte sie überhaupt Angst und warm war sie alleine mit ihr? 

Eine schwache Stimme meldete sich in ihrem Kopf und erklärte, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts Gefährliches hinter der Tür lag. Das stimmte, wenn man es logisch betrachtete. Doch Less wusste auch, das Angst meist einen Grund hatte und sie bekam Gänsehaut allein bei dem Gedanken an das dunkle Haus und sie hatte eine böse Vorahnung. 

Ohne es wirklich zu wollen, als hätte Jemand anderes den Entschluss dazu gefasst, griff sie plötzlich nach dem Schlüssel und drehte ihn. Im gleichen Moment hörte sie am anderen Ende des Flurs eine Tür aufgehen. 

Es war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie erstarrte, völlig unfähig, sich zu bewegen. Da waren tatsächlich Schritte, die offenbar mit hoher Geschwindigkeit auf sie zukamen. Nein, ich muss fliehen, dachte Less. Sie sammelten allen Willen den sie fand und schaffte es, sich umzudrehen, es fühlte sich an, als wäre die Luft um sie herum zäh und fest geworden. Mit aller Kraft drückte sie sich nach vorne, zum Fenster und die Schritte hinter ihr kamen näher. Less wollte nicht darüber nachdenken, was es war, wollte es sich nicht vorstellen. Sie erreichte das Fenster, keuchend und als der Griff klemmte riss sie so heftig daran, dass er abriss, doch glücklicherweise hatte sie es damit trotzdem entriegelt. Ihre Zimmertür schob sich auf und ihre Nackenhaare stellten sich auf, alles in ihrem Körper wusste nun, dass sie so schnell wie möglich hier wegmusste. Sie kletterte auf die Fensterbank und für einen Moment hatte sie das Gefühl, an der Schulter berührt zu werden, für den Bruchteil einer Sekunde, dann sprang sie. 

Während sie nach vorne flog verlor die Luft plötzlich all den Widerstand und als sie auf der Wiese landete und losrannte, war es, als ob sie nichts zurückhalten würde. Sie sprang über das Gartentor in der Hecke auf die Straße und lief davon, so schnell es ging in die Nacht herein. 

Noch nie war sie so schnell und so weit zugleich gerannt. Und bei Nacht und mit nichts als Socken an den Füßen sowieso nicht. 

Sie war immer wieder abgebogen, mal rechts, mal links, war im Zickzack aus der Siedlung heraus über einen Acker hinweg auf eine Landstraße gelaufen. Sie war sich sicher, dass sie das, was sie verfolgt hatte, abgehängt hatte. Trotzdem schaute sie nicht zurück und wagte es auch nicht, ihre Schritte zu verlangsamen, während sie mit nassen Socken weiter die Straße entlang lief. 

Der Wind der einbrechenden Sommernacht war anfangs noch angenehm gewesen, doch langsam wurde er kühler und Less begann sich zu fragen, wo sie übernachten sollte. 

Und dann, ganz plötzlich machte sie Halt und die Angst überkam sie wie eine Welle aus Gespenstern. Sie stand mitten auf der leeren Straße und sah über den Mondbeschienen Asphalt in die Ferne. Sie war ganz allein und es wurde kalt, bei all der Bewegung und Anstrengung hatte sie nicht bemerkt wie eisig der Wind geworden war. Nirgends war ein Haus zu sehen, kein einladendes Licht das aus einem Fenster drang, alles sah sehr unbekannt aus. Sie konnte nicht allzu weit von Zuhause weg gelaufen sein, doch die Landschaft war ihr so fremd wie das Gefühl von Heimat. 

„Keks?“ fragte eine Stimme hinter ihr. Sie schnellte erschrocken herum doch gleichzeitig spürte sie Erleichterung in sich hochsteigen denn die Stimmte hatte etwas an sich, dass die verzweifelte Nacht in eine weniger dramatische Begebenheit kippte. 

Vor ihr stand ein hagerer Junge in abgenutzter Kleidung, deren bunten Farben überhaupt nicht zueinander passten. Er kratzte sich mit der einen Hand in den Strohigen Haaren und hielt ihr mit der anderen eine angefangene Packung runder Kekse hin. 

„Äh,“ begann Less, doch der Junge schüttelte bereits ungeduldig mit der Packung vor ihr herum, sodass ein Großteil der Kekse beinahe auf die Straße gefallen wäre, wenn sie nicht schnell danach gegriffen hätte. Sie steckte sich einen in den Mund und der Junge, offenbar nicht daran interessiert sich vorzustellen, nahm sich ebenfalls einen und so standen sie Wortlos voreinander und aßen Kekse. 

Als die Handvoll alle war, räusperte sich Less: „Wer bist du?“

Der Junge sah von seinen Keksen auf. „Jolby“, sagte er, „und du?“

„Ich bin Less“, sagte sie, „ähm..danke“, fügte sie hinzu und deutete auf die Kekse. Er winkte ab: „Ich hab ziemlich viele davon.“

Dann ging er los, an ihr vorbei die Straße entlang. „Hey, wohin gehst du?“ fragte Less verwundert, doch als Jolby sich zu ihr umdrehte sah er sie mit noch größerer Verwunderung an: „Wir müssen uns beeilen, oder willst du ewig auf den übernächsten warten?“ fragte er. 

Und dann wurde Less etwas klar: Er musste sie verwechselt haben. Er hielt sie für irgendjemand anderes, deswegen hatte er ihr auch einfach so etwas von den Keksen abgegeben. Sie ging ihm hinterher: „Hey, du musst mich für jemand anderes halten! Ich muss nirgendwo hin“, rief sie und versuchte mit ihm Schritt zu halten, den er eile überraschend flink die Straße entlang. 

„Natürlich musst du wo hin!“ erklärte Jolby, „und wie sollte ich dich für jemand anderes halten, wenn ich deinen Namen gar nicht kannte? Meinst du etwa, ich habe damit gerechnet jemand anonymes hier zu treffen?“ fragte er. Das stimmte dachte Less, zumindest teilweise. Wo musste sie denn bitte hin? 

Die Frage beantwortete sich, als Jolby plötzlich anfing zu laufen und auf einen alten Fabrikhof deutete, der weiter hinten Sichtbar geworden war. Er schob den Ärmel seiner zu großen Jacke zurück und versuchte im Laufen die Ziffern einer kleinen Armbanduhr zu lesen. 

„Das schaffen wir noch!“ rief er über die Schulter und Less, die zwar nicht wusste, wohin es ging, folgte ihm dich auf den Fersen, denn was es auch sein mochte: Lieber würde sie mit Jolby wohin auch immer laufen, als hier alleine in der Dunkelheit auf nichts zu warten. 

Sie erreichten den Hof und Jolby schob ohne zu zögern das eiserne Tor auf, als plötzlich Lichter aufflammten. Less hielt sich die Hand vor die Augen um es abzublenden und erkannte durch das grelle Licht einen Bus, dessen Motor nun aufbrummte. Jolby stürmte geradewegs darauf zu und riss die Tür des langsam los rollenden Busses auf, doch Less bliebe einige Meter davor stehen und starrte ihn verwundert an. Was sollte das? War das eine Falle? Wieso sollte ein Junge mitten in der Nacht durchs Land laufen und dann in einen offenbar selbstständigen Bus steigen? Sie musste umkehren, sofort. Vielleicht konnte sie, wenn sie irgendwo ein vertrautes Schild fand, den Weg zu ihren Großeltern finden und dort übernachten. Doch dann würde sie wieder in dieses verdammte Haus zurück müssen und die Erinnerung an den Grund ihrer Flucht kämpfte sich durch das blendende Scheinwerferlicht. 

„Was machst du denn? Steig ein!“ rief Jolby und zu ihrer eigenen Überraschung gehorchte sie und lief dem Bus hinterher, der zum offenen Tor ratterte und Fahrt aufnahm, als Jolby sich waghalsig aus der offenen Tür hängen ließ und sie mit einem Ruck auf die Trittstufe zog. 

Sie hatte kaum die Tür hinter sich zugezogen (die offenbar seit Jolby unbefugtem Öffnen etwas beleidigt schien und sich weigerte, sich von selbst zu schließen), als der Bus plötzlich mit raketenähnlicher Beschleunigung die Straße entlang sauste und immer schneller wurde. 

Jolby sah von einem der Sitze interessiert auf Less hinab, die durch den Mittelgang purzelte und sich dabei mehrmals den Ellbogen böse an den Stangen stieß. „Fährst du zum ersten Mal Bus?“ fragte er. 

Less fand halt an einem der Sitze und zog sich daran hoch. „Nein“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und hielt sich den schmerzenden Ellbogen, „aber es ist das erste Mal, dass ich in einen bereits fahrenden springe.“

Jolby nickte verständnisvoll und zog eine Packung Kekse aus seiner Jacke. Der Bus hatte offenbar seine Reisegeschwindigkeit erreicht, denn er beschleunigte nicht mehr. Jolby kletterte über die Sitze zu der Bank von Less und legte die Packung Kekse neben ihr auf den Sitz, bevor er sich auf der gegenüberliegenden Seite ans Fenster lehnte. 

Aus dem Nichts war Regen aufgetaucht und trommelte gegen die Scheibe und vielleicht war es die Wärme die von den schmalen Heizlüftern im Fußraum aufstieg, oder das beruhigende Holpern des Busses, dass dafür sorgte dass die Müdigkeit über Less fiel. Aber wohin fuhr der Bus? Sie war darauf gefasst, dass alles nur ein ungewöhnlicher Traum war und vielleicht war das der Grund dafür, dass sie nicht in Panik ausbrach. Mit dem Traum Argument ließ sich auch der Bus erklären, der schließlich gerade ohne einen Fahrer durch die Nacht sauste. 

Trotzdem wollte sie wissen, was genau das Ziel war. Bevor sie in wenigen Stunden in ihrem düsteren Zimmer im noch düsteren Haus aufwachen würde, wollte sie so viel wie möglich erfahren. Mit Mühe schaffte sie es, die Augen offen zu halten und wandte den Kopf zu Jolby, der sie interessiert beobachtete. 

„Wohin fahren wir?“ fragte Less. Jolbys Hand, die gerade einen Keks zu seinem Mund beförderte, erstarrte in der Luft und seinen Augen wurden groß. „Ist das dein Ernst?“ fragte er verblüfft. Less war verwirrt. Erwartete er denn, dass sie seinen komischen Reiseplan kannte? Sie hatte ihm doch schon draußen auf der Straße gesagt, dass sie gar kein richtiges Ziel hatte. 

„Nein“, sagte sie, „ich habe doch…“, doch Jolby unterbrach sie: „Bist du…bist du aus der….naja, aus der Welt?“

Die Frage war fast so merkwürdig wie ein selbstfahrender Bus. „Nein, ich komme vom Mond. Bin zufällig auf der Landstraße gelandet“, sagte Less sarkastisch. Wie sollte sie auch sonst auf so eine Frage antworten. Doch Jolbys Miene blieb unverändert starr. „Nein, ich meine es ernst“, sagte er. Nun war Less besorgt und das schien man ihr anzusehen, denn Jolby fügte rasche hinzu: „Nicht, dass es schlimm wäre. Es ist nämlich egal woher man kommt. Aber trotzdem, kommst du von dort?“

Less dachte an Jolbys Fragte zurück. Kam sie aus der Welt? Nun, davon war sie überzeugt und darum nickte sie und sofort darauf fiel ihr eine Gegenfrage ein: „Kommst du nicht aus der Welt?“

Jolby schüttelte heftig den Kopf: „Würde ich dann in diesem Bus hier fahren?“ fragte er, doch Less hakte nach: „Woher kommst du dann?“

„Aus der Nebenwelt natürlich! Dort ist meine Heimat, Zeltstadt!“ sagte er stolz. Die Nebenwelt also, dachte Less. Vielleicht war in den Keksen etwas, das verrückt machte. Aber sie war lieber in einem verrückten Traum als in dem dunklen Haus und so glaubte sie ihm einfach. Es gab neben der Welt offenbar eine Nebenwelt und eine Stadt darin hieß Zeltstadt. 

Sie ließ sich zurück in die Sitzpolster sinken, doch ihr fiel noch eine Frage ein: „Wohin fahren wir?“

Jolby, dessen starre Haltung aufgetaut war, legte die Kekse beiseite und Less sah, wie seine Augen plötzlich vor Aufregung glühten: „Nach Nimego!“ sagte er, „die großartigste Stadt der Welt und der Nebenwelt! Sie ist die wichtigste Stadt, der Mittelpunkt von allem! Auch wenn sie nicht die größte ist, es gibt viel größere Städte in der Nebenwelt, aber Nimego ist die wichtigste!“

„Warum?“ fragte Less. Auf diese Frage hatte Jolby eine Antwort. Eine ziemlich lange Antwort. Sie war so lang, dass er sich dafür auf aufrecht auf seinen Sitz stellte, die wie eine Bühne für ihn war und Less war sein Publikum. Nach allem, was Less verstand, war Nimego eine sehr alte Stadt, die noch eine richtige Stadtmauer hatte. Sie stand auf dem größten Berg eines Gebirges im Süden des Landes und von ihr aus konnte man das Meer sehen. 

Jolby, der aus Zeltstadt kam, war als kleiner Junge mehrmals da gewesen und jedes mal schien etwas großartiges in der Stadt von statten gegangen zu sein. Er erzählte von einem glorreichen Stadtfest, über dessen Ursprung er nichts wusste und von einem großen Wettkampf, der offenbar auf fliegenden Fahrrädern ausgetragen wurde. Bei einigen Sachen jedoch war sich Less ziemlich sicher, dass er übertrieb. So berichtete er von einem Kampf zweier Drachen, der über der Stadt ausgetragen worden sei und von einer magischen Rakete, die auf einem der umliegenden Feldern startete und bis zum Jupiter flog. 

Less meinte zu wissen, dass es wenig Sinn ergab, zum Jupiter zu fliegen, denn im Unterricht hatte sie gelernt, dass er nicht sehr wohnlich war. Bei einem Wort stutze sie aber: „Was ist die Sunmivalai?“ fragte sie, als sie das Wort zum zweiten Mal aus dem unaufhaltsamen Redefluss von Jolby herausfischte. 

Jolby stockte einen Moment und sprang dann entgeistert auf, wobei er sich den Kopf an der Gepäckablage stieß: „Du weißt nicht, was die Sunmivalai ist?“ rief er.

Less, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie sich selbst für dumm oder Jolby für verrückt halten sollte, schüttelte den Kopf und sah ihn wissbegierig an. Jolby hielt sich den Kopf und ließ sich auf seinen Sitz plumpsen. „Die Sunmivalai ist die Universität der Zauberer! Sie versteckte sich in Baris glaub ich!“ sagte er ehrfurchtsvoll. „Meinst du Paris?“ fragte Less. Jolby nickte: „Ja, kann sein, so heißt die Stadt glaube ich.“

„Kennst du Paris nicht?“ fragte Less verdutzt und setzte sich in ihrem Sitz auf, stolz nun einmal mehr zu wissen als Jolby. „Also ich hab von manchen Städten aus der Welt gehört, aber eigentlich kenne ich nur unsere Nebenwelt Städte. Zeltstadt natürlich, Nimego und viele andere, kleinere. Meine Eltern haben einen Zirkus, musst du wissen. Wir reisen eigentlich immer umher, aber wir dürfen nicht in der Welt auftreten, höchstens mit Sondergenehmigung des Regiments.“

„Wer ist das?“ fragte Less und innerlich überlegte sie, wie sie die Nebenwelt je hatte übersehen können, wenn es doch laut Jolby so vieles darin gab. 

„Das ist unsere Regierung, zumindest hier. Anderswo gibt es natürlich auch andere Regierungen und andere Gesetze. Zuland hat sogar einen König glaube ich.“

Jolby kramte eine weitere Packung Kekse aus einer seiner Jackentaschen. „Darf ich mich zu dir setzen?“ fragte er vorsichtig. „Ja, klar“, sagte Less. Der Bus hatte wohl eine bessere Straße erreicht, denn es ruckelte kaum noch. In Less Kopf tobten die Gedanken umher, so als hätte jemand ohne Ahnung was er da tat alle Knöpfe eine Whirlpools gedrückt. 

„Aber warum sieht man die Orte der Nebenwelt denn nicht in der normalen Welt? So eine Universität ist doch ziemlich groß, die kann man nicht einfach so in Paris verstecken!“

Jolby zuckte mit den Schultern. „Ich glaube Onkel Niwwel hat es mir mal erklärt, aber da war ich noch sehr klein und habs nicht verstanden. Ich nehme an, dass wir in der Schule darüber lernen.“

Less starrte ihn an: „Schule?“ fragte sie. Jolby runzelte die Stirn: „Was glaubst du denn, warum wir sonst in die Stadt fahren?“

„Also fährst du jede Nacht hier mit dem Bus?“ wunderte sich Less. „Natürlich nicht!“, erklärte Jolby, „das Schuljahr hat doch noch gar nicht angefangen! Wie alt bist du eigentlich?“ fügte er fragend hinzu. „Zehn“, sagte Less. Jolby sprang auf: „Dann passt ja alles! Mit Zehn kommt man in das erste Schuljahr!“

„Ich bin schon auf einer Schule“, erklärte Less und schüttelte den Kopf darüber, dass Jolby dachte, dass sie freiwillig noch einmal mit der ersten Klasse beginnen würde. „Ja, du bist in einer Schule von der normalen Welt, aber die sind doch ziemlich öde, oder?“ fragte Jolby hinterhältig. 

„Immerhin weiß ich, was Paris ist“, sagte Less hochmütig. „Ja, aber du hattest noch nie Zeitologie, stimmt‘s?“ fragte Jolby weiter. „Nein, was ist das?“ erwiderte Less. 

„Keine Ahnung“, sagte Jolby, „aber man lernt es hier in der Schule!“

„Hm“, meinte Less und versuchte sich vorzustellen, was Zeitologie sein sollte. Sie sah aus dem Fenster, doch bei der Dunkelheit sah sie darin nur ihr Spiegelbild und als sie sah, wie müde sie aussah, lehnte sie sich unwillkürlich zurück und schloss die Augen. „Ich werds ja sehen“, sagte sie müde. „Das wirst du!“, bekräftigte sie Jolby, „wenn du einmal in Nimego bist, willst du nie wieder zurück! Bei meinem ersten Besuch bin ich von meinen Eltern kurz vor der Heimfahrt weggelaufen und hab mich auf einem komischen Platz voller bunter Läden versteckt, weil ich nicht zurück wollte. Du bist ja alleine, du musst dich nichtmal verstecken, um dort zu bleiben.“

Du bist alleine. Ja, dachte Less, das bin ich. Die Worte taten ein bißchen weh und sie versuchte krampfhaft, sie wieder zu verscheuchen, bis ihr etwas einfiel: „Stimmt nicht. Wir sind zu zweit.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert