Less 1 Kapitel 1

Die Zauberer der Sunmivalai sind außergewöhnlich klug. Sie wissen, dass die Erde nur deswegen durchs All schwebt, weil sie nicht weiß, wohin sie fallen soll. Ihr bleibt also gar nichts anderes übrig, als einfach weiter zu fliegen. 

Ein blauer Leuchtturm.

Dieses Wissen kommt natürlich nicht von Ungefähr, denn wie alle Erkenntnis liegt ihr einer langer, mühseliger Weg voller fehlgeschlagener Theorien zugrunde. Vor gar nicht allzu langer Zeit war man sich an der Hochburg der Magie sicher, die Welt sei im Inneren hohl und mit Helium gefüllt, wodurch sie wie ein Kirmes Ballon durch das Sonnensystem schweben könne. 

Noch früher, zu einer Zeit, in der es die Sunmivalai noch nicht gab, waren sich die Gelehrten sicher, die Welt habe die Form einer gigantischen Pyramide und es brauchte über Tausend Jahre der Nachforschung, um diese Vorstellung über Bord zu werfen. Das finale Gegenargument war, dass man keine Kanten gefunden hatte, die auf eine solche Form hinwiesen. 

Kluge Menschen würden nun den Schluss ziehen, dass das neuste Wissen der Sunmivalai nicht endgültig ist, sondern früher oder später von einer neuen Theorie abgelöst wird. Noch klügere Menschen würden aber davon absehen, diese Ansicht gegenüber den Zauberern der Sunmivalai zu erwähnen. Sie glauben, dass sie wissen. Damit spielen sie voll und ganz nach den Spielregeln, die sie sich gegeben haben, ohne es je mitzubekommen. 

In den Mauern der altehrwürdigen Universität lebt nämlich ein Geist, der den vielen Schriften und auch den Experimenten inne wohnt. Er heißt Quantum Macunare. Er ist ein zweiseitiges Wesen; Er hilft den Zauberern auf ihrem Weg, verzichtet aber darauf, ihnen mitzuteilen, dass es sich um einen Irrweg handelt. Man könnte sagen, er ist nicht böse aber nutzlos. 

Auf ihrem Holzweg pflegen die Zauberer dicht beieinander zu bleiben, denn sie sind Rudel Wesen. Um das zu gewährleisten fußt alle Forschung, die an der Sunmivalai vonstatten geht, auf eine einzige Grundregel: Die Meinung des Dekans ist Gesetz. Auf diese Weise wird jegliche Meinungsverschiedenheit äußerst effektiv vermieden und gleichzeitig die letzte Hoffnung auf tatsächlichen Fortschritt wie ein ahnungsloser Tourist in einer Stierkampfarena dem Schicksal überlassen. 

Ich denke, das genügt, um im Geiste ein Bild der Zauberer und ihrem Schaffen zu zeichnen. Vielleicht sei noch erwähnt, dass sie spitze Hüte tragen. Durch sie wird der Gedankenstrom aus ihrem Kopf auf die Spitze gelenkt und es entsteht Scharfsinn. Leider befindet sich dieser stets in den Hüten und nicht in den Köpfen, wo er eigentlich hingehört. Genug zu den Zauberern, es gibt wichtigere Dinge zu erklären.

Vor Zwölftausend Jahren sah die Welt ziemlich interessant aus. Das tut sie heute immer noch, aber das fällt keinem auf, weil wir alles für normal befinden. Damals gab es jedoch Dinge, die so großartig waren, dass wir sie heute gar nicht mehr verstehen. Noch nicht. Die meisten davon sind leider kaputt gegangen, aus einem triftigen Grund. Das Ärgerlichste ist das verschwinden der alten Chronik, einem Werk, dass die Welt beschrieb, die wir nie kannten. Neun Bücher waren es, mit je Neunhundert Seiten, geschrieben von einer Gruppe von Menschen, die dass hatten, was die Zauberer den ganzen Tag in ihren Hüten mit sich spazieren führen: Scharfsinn. 

Die Weisen der unbekannten Zeit schlossen die Augen und versuchten alles gleichzeitig zu sehen. Davon wurde ihnen vermutlich schwindelig, doch es half ihnen, das wichtigste von allem aufzuschreiben. Sie fanden etwas sehr kostbares in der Geschichte, die sie schrieben: Zusammenhänge. 

Von all dem ist genau eine Seite übrig. Das ist nicht viel, doch die freudige Auskunftsbereitschaft des Pergaments reichte aus, um ein größeres Bild von der alten Chronik zu zeichnen. Am oberen Rand steht „Seite 5/900“ und an der Unterseite steht: „Die Chronik, Buch 4/9“. Daraus zogen die Zauberer ihre Schlüsse. Der Möglichkeit, dass die Seite vielleicht einfach ein Aufschneiderisches Exemplar war, dass maßlos übertrieb, schenkten sie keine Beachtung.

Damals, in der alten Zeit, nannte man das Werk einfach „Die Chronik“, denn man wusste noch nicht, dass sie alt war. Was man auch noch nicht wusste, war die Belanglosigkeit vom „Hergang der Erfindung des Schnürsenkels“. Genau dieser ist nämlich auf der einzig erhaltenen Seite in allen Einzelheiten beschrieben. Damit hat das Schicksal eine eher weniger spektakuläre Seite für die Nachwelt gelassen, doch man nimmt, was man bekommt.

Dieses Blatt Papier liegt in einer kleinen Truhe im Keller eines blauen Leuchtturms. Dieser Leuchtturm steht auf einem kleinen Felsen dicht an der Küste einer Bergigen Landschaft und er bringt uns in die Gegenwart zurück, denn in seinem Inneren gab es einen sehr runden Raum mit sehr rundem Tisch, um den herum Vier Leute saßen, die weniger Rund waren. 

Sie waren sehr unterschiedlich und ihre einzige Gemeinsamkeit bestand wohl in ihrem Interesse an dem kleinen Brief, der in der Mitte des Tischs lag. 

Auro Mauerwart, der älteste von ihnen, hatte noch ein anderes Interesse und das galt einer bauchigen Flasche, die eine Honigfarbene Flüssigkeit enthielt: Zomka. 

„Ich nehm` nochn bischn was, jau?“ fragte er und griff nach der Flasche. Der Mann zu seiner linken nickte. Er trug einen etwas zu großen Anzug und sah freundlich aus. Er hieß Fido der Gläubige. 

Auro schüttete Zomka auf die Tischdecke und auch ein bißchen in sein Glas, stellte die Flasche wieder ab und ließ sich zusammen mit seiner Beute in die Rückenlehne sinken. 

Zu seiner Rechten saß Verva No, die kaum jünger war als Auro und damit die zweit Älteste in dem gemütlichen Raum war. Ihre Lieblingsfarbe schien Grün zu sein, zumindest war ihr Kleiderschrank dieser Auffassung. Sogar die Karierte Bluse unter dem Mantel beschränkte sich in ihrem Muster auf die Kombination verschiedener Grüntöne und vermied alle anderen Farben. Verwunderlich war der abgenutzte Stoff auf ihrer linken Schulter, der nicht zum Rest ihrer sorgsam gebügelten und gepflegten Uniform passte. 

Neben ihr, gegenüber von Auro Mauerwart, saß ein Frau, die eine Form der Eleganz versprühte, die man mit Kleidern nicht nachahmen kann. Es war, als würde sich ihr seidenes Gewandt mächtig Mühe geben, mit ihr Schritt zu halten und es war ein Wunder, dass in der Mitte des Tisches, dort wo ihre Ausstrahlung auf den Mief von Auro Mauerwart traf, keine Funken sprühten. 

Der alte Auro hatte sein Glas zurückgestellt und klopfte sich nun etwas panisch auf den wolligen Bart, in dem ein kleines Feuer aufgezüngelt war. Diese Nebenwirkung war nicht ungewöhnlich für Zomka, doch es war jedes mal aufs Neue etwas erschreckend, wenn die goldene Flüssigkeit Dinge in Brand setzte oder Dampf aus den Ohren blies. 

„Er ist schon n komischer Kauz,“ teilte Auro den anderen mit. Das war eine interessante Aussage von jemandem, der im Lexikon als Beispiel für einen komischen Kauz aufgeführt werden konnte, doch das störte ihn nicht. „N verrückter Vogel isser. Aber der hat ja seine Tricks, nich wahr? Er weiß schon was, dass muss man ihm lassn. Vielleicht sogar der schlauste, wie manche sagen. Aber trotzdem isser ja nen verrückter Vogel, nich?“ 

Ju Kovinas Eleganz rührte ein Stückweit von ihrer großen Achtung gegenüber ihren Mitmenschen her. Sie wusste, dass es nicht ihre Aufgabe war, zu richten. Dafür gab es Richter, wie sie fand, und von denen hielt sie nichts. Sie freute sich, wenn jemand eine „Art“ hatte. Weil praktisch jeder Mensch so „seine Art“ hat, freute sie sich ziemlich viel. Trotzdem wusste sie nicht wirklich, was Auro ihr mitteilen wollte und ebenso wenig wusste sie, was darauf zu antworten sei. 

Sie lächelte ein diplomatisches Lächeln, was Auro aber nicht sah, denn er schaute gerade in sein leeres Glas. „Nix mehr drinne“, stellte er fest und stellte es auf den Tisch. 

„Möchtest du noch von dem Zomka?“ fragte Fido in seiner bedachten Stimme und hob die Flasche wenige Zentimeter vom Tisch, bereit seinem Gast einzuschenken. Auro nickte. 

„Ich hab jetz noch gar nich gesagt, was ich eigentlich sagn wollte“, teilte Auro der Runde mit, während er sich mit seinem wieder aufgefüllten Glas noch tiefer in den Stuhl sinken ließ. Verva No zog die strengen Augenbrauen hoch und Fido sah seinen Gast interessiert an. Er mochte Menschen. 

„Also wenn er doch nen Brief schickt“, erklärte Auro, „dann hätte er doch einfach darein schreibn könn, wasser uns sagen will, stimmts?“ 

Verva Nos zweite Augenbraue hob sich ebenfalls, doch Auro richtete sich auf und fuhr fort: „Stattdessen schickter nen Brief, der uns sagt, wo wir ihn treffen sollen, damit er uns dann sagt, wasser uns sagen will. Das is doch bekloppt, nich wahr? Für mich is das n klares Zeichen, dass er nen komischer Vogel is. Nen großartiger Vogel aber natürlich trotzdem!“

Er hob sein Glas zum Zeichen, dass seine Rede nun vorbei sei und lehnte sich zurück. Ju Kovina lächelte weiterhin und sie reichte Verva No ungefragt ein Schälchen mit Gebäck, um sie davon abzuhalten, zu explodieren. „Danke“, sagte sie und nahm sich ein Plätzchen. Ihr Gemüt konnte auch ohne die Hilfe von Zomka dampfen.  

„Ich nehme an, Merlin hatte Angst, dass der Brief abgefangen wird?“ vermutete Fido. Ju Kovina nickte. „Manche Nachrichten sind zu wichtig für Briefe und bei den Schneestürmen der letzten Tage ist es sowieso dem Zufall überlassen, wo die Brieftauben landen.“

Auro hörte nicht zu, sondern bekämpfte ein erneutes Feuer in seinem Bart. Verva No hatte ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes im Raum gerichtet. Sie sah geradewegs an ihrem kokelnden Sitznachbarn vorbei zu der kleinen Küche an der Wand. Dort stand eine kleine Kaffee Mühle, die sich von selbst drehte. „Entschuldigt mich“, sagte sie, stand auf und ging hinüber. Sie packte die Kaffemühle und zog sie mit einem Ruck zur Seite, dann schnipste sie und mit einem Mal wurde ein auf der Küchenplatte sitzendes Faultier sichtbar, welches etwas verdattert zu ihr aufsah. 

„Rugmuk!“ sagte sie streng deutete auf die Kaffeemühle, „wenn wir anderswo zu Gast sind, lassen wir unsere Finger von fremden Sachen.“

Sie nahm das Faultier und setzte es auf ihre Schulter, bevor sie zurück zum Tisch ging. 

„Sei doch bitte nicht so streng“, sagte Fido freundlich, „ich freue mich doch, wenn ich morgen früh etwas weniger Arbeit mit der Mühle habe!“ Verva No überhörte ihn und rümpfte nur die Nase, als Auro geistesabwesend rülpste. Rugmuk, das Faultier, freute sich.

„Wir sollten losgehen“, sagte die diplomatische Ju Kovina und als sie aufstand kam ein Paar feiner, weißer Handschuhe unter dem Tisch zum Vorschein, welches zuvor in ihrem Schoß gelegen hatte. Die anderen folgten ihrem Beispiel und stiegen ihr nach, eine sehr wendelige Treppe hinab, die durch ein Gewirr aus Zahnrädern nach unten führte, wo sie an einer lukenartigen, grünen Tür mündete, die überhaupt nicht zu der blauen Außenfarbe des Leuchtturms passte. Fido wusste nicht so genau, wie man Farben richtig verwendete. 

Draußen war es kalt, aber sternenklar und von dem Sturm in der Ferne rührte nur ein hauchzarter Wind herüber. Ju Kovina schnippte mit den Fingern und beschwor Vier Tennisball-große, leuchtende Kugeln herauf, die sich pflichtbewusste aufteilten und den anderen den Weg leuchteten. 

Der Felsen, auf dem der Leuchtturm stand, war mit schilfartigem Gras bewachsen, zwischen das sich wilde Blumen gedrängt hatten. Bei Flut ragte er wie eine kleine Insel aus dem Wasser, doch bei Ebbe, so wie sie gerade war, konnte man über glitschige Steine hinweg bis zum Festland laufen. 

Der Strand selber war nicht besonders groß oder breit, denn er bestand eigentlich nur aus einem steinigen Streifen zwischen dem Meer und dem riesigen Berg, der vor ihnen aufragte. Algen tummelten sich hier und ein nächtlicher Spaziergang war eine akrobatische Herausforderung, die einzig und allein Ju Kovina mit Würde meisterte. Auro hatte ein beunruhigend großes Schwert hervorgeholt, das er als Spazierstock verwendete und damit zwischen den Steinchen umher stocherte. 

Verva No hatte ihren Kragen gegen den zwar leichten, aber dennoch eisigen Wind aufgestellt und das Faultier ließ sich rücklings von ihrer Schulter baumeln, sodass es kopfüber den freundlichen Fido beim balancieren beobachtete. Sie gingen eine ganze Weile lang durch die frühe Nacht und die Wolken zogen, offenbar unschlüssig in welche Richtung sie wollten, wie zerrissene Vorhänge vor den Sternen vorüber, was dazu führte, dass es immer abwechselnd hell und dunkel wurde. Nur die kleinen, leuchtenden Bälle von der vorausgehenden Ju Kovina verstreuten ein gleichmäßiges Licht und warfen die Schatten der vier Gestalten auf den glitschigen Untergrund. 

Der Mond war nicht zu sehen, denn er lag hinter dem Gebirge, doch es gab tatsächlich noch eine andere Lichtquelle: Oben, auf dem größten Berg aus der Kette, waren in der Ferne winzige, gelb leuchtende Punkte versammelt – eine sehr alte Stadt. 

Verva No ging etwas abseits von den anderen, darauf bedacht, so viel Abstand wie möglich von dem riesigen Schwert Auros zu nehmen. Eine kluge Entscheidung. Fido der Gläubige schaute immer wieder zurück, ein wenig unruhig, denn für einen Leuchtturm Wärter fühlt es sich nie ganz richtig an, sich von seinem Leuchtfeuer in einer Nacht wie diesen so weit zu entfernen. Er sah die Schiffe nicht, die sich am dunklen Horizont einzig und allein an dem Leuchten des blauen Turms orientierten, doch er wusste, dass sie da waren. Außerdem wusste er, was unter den schwarzen Wellen weiter hinten lauerte. Sie wurden nur von dem gleißenden Lichtstrahl daran gehindert, durch die Oberfläche zu brechen. Namenlose Kreaturen der tiefe, deren bloße Vorstellung Fido unvermittelt zusammenzucken ließen. 

„Ich sachs euch ja, n ganz komischer Vogel“, tönte Auros Stimme durch die Brise, „hätt ja auch tagsüber mal vorbei schnein könn, nich wahr? Isn ganz komischer Vogel, denn er will uns mittn inner Nacht hier unten treffn, um uns was zu sagn. Hier unten auf den glitschign Stei-“ er brach mitten im Satz ab, als er mit einem dumpfen Plumpsen auf dem Boden landete. 

„Verdammt“, keuchte er und die leuchtende Kugel folgte ihm nach unten, wo sie die Steine beleuchtete, auf denen er lag. Eine großartige Hilfe. Ju Kovina hatte sich blitzschnell umgewandt und Fido war schon zu Hilfe geeilt. „Mein lieber Freund, ist dir etwas passiert?“ fragte er besorgt. 

Auro, der auch im Fallen das Schwert nicht aus der Hand gelassen hatte, setzte sich auf. „Nix schlimmes passiert, obwohl mein Arm glaub ich was abgekriegt hat…vielleicht gebrochn oder so.“

Seine lässige Art konnte seinen Gesichtsausdruck nicht überspielen, der doch etwas blass geworden war. Er zuckte, als er den Arm bewegte. „Wir müssen uns beeilen, wenn wir zur Mondstunde dort sein wollen“, sagte Verva No, deren Sorge eher der Zeit, als Auro galt. Ju Kovina war zu Auro herüber getreten. Er stemmte sich mit dem Schwert hoch und zog eine schmerzverzerrte Grimasse, als er an seinen Arm stieß. 

„Is echt nich so gut“, erklärte Auro verbissen, „dieser komische Vogel-“, doch die junge Frau unterbrach ihn: „Für‘s erste sollte das hier reichen“ und sie schnippte wieder mit den Fingern, woraufhin der leuchtende Ball auf den Arm von Auro zu glitt, wo er einfach hindurch schwebte und seinen Mantel an der Stelle zum glühen brachte. „Ja, das is gut“, bedankte sich Auro und schritt zielstrebig drauflos.

Fido blickte sich nun immer häufiger zu dem von ihm verlassenen Turm um und manchmal blieb er sogar stehen. „Es passiert schon nichts schlimmes in der Abwesenheit“, besänftigte ihn Verva No und zog ihn mit sich. „Ja, da haben sie wahrscheinlich Recht“, meinte Fido, „ich meine nur -“ in diesem Moment drang ein metallenes Geräusch aus der Ferne zu ihnen herüber. Verva No und Fido blieben stehen und sahen sich um. Der blaue Leuchtturm, der sich in der Ferne selbst beleuchtete, schien sich, sofern man es erkennen konnte, um die eigene Achse zu drehen. „Ach du meinte Güte!“, sagte Fido, „er machts schon wieder…“ 

„Nun“, murmelte Verva No, „er wurde von der Sunmivalai konstruiert UND gebaut, es grenzt an ein Wunder, dass er bisher noch nie explodiert ist.“ 

Fido überhörte ihre Stimme in dem Versuch, seine Ohren auf das Ferne klimpern zu richten. 

„Bitte beeilt euch!“ rief Ju Kovina von weiter vorn. Die beiden drehten sich um und als Verva No entschieden weiterschritt, folgte Fido ihr widerwillig. „Naja, er leuchtet ja trotzdem, für die Schiffe droht also keine Gefahr“, sagte er mehr zu sich selbst und versuchte das blecherne Klingen des seltsamen Leuchtturms aus den Ohren zu verscheuchen. 

Pünktlich zu der Mondstunde gelangten sie an eine Höhle, die dicht am Wasser lag und über Jahrtausende in den Fels einer steilen Klippe gespült worden war. Ohne umschweife traten die Vier in die Dunkelheit, die so düster war, dass sie das meiste von dem Licht der Bälle einfach verschluckte. 

„Wo isser, der komische Kauz?“ fragte Auro und sah sich, das Schwert erhoben in der Hand, in der Höhle um. 

„Sollte gleich kommen“, erwiderte die Höhle und Auro erschreckte sich so sehr, dass er beinahe wieder auf dem Boden gelandet wäre. Er hoffte, dass es in der Dunkelheit niemand bemerkt hatte und lehnte sich, als sei nichts gewesen, an die kühle, feuchte Wand. 

„Haben sei eine Vermutung, was er uns sagen möchte, Frau Kovina?“ erkundigte sich Verva No, die sich im Gegensatz zu Auro nicht an die Wand lehnen wollte und stattdessen stocksteif in der Mitte des Raums stand. 

Ju Kovina hatte nur selten Vermutungen, denn das meiste wusste sie bereits und musste es daher nicht vermuten. Doch nun blieb sie ungewöhnlich still und lauschte in die Dunkelheit und das Rauschen des Meeres, was langsam wieder näher kam und die Flut ankündigte. 

Dann erschien jemand in der Höhle, ohne auch nur das geringste Geräusch dabei zu verursachen.  Das einzige, was ihn verriet, waren feine Rauschschwaden, die plötzlich durch das Licht von Ju Kovinas Leuchtkugeln zogen. „Guten Abend“, sagte eine Stimme, die Ju Kovina erst wenige Male gehört hatte. 

„Guten Abend“, sagte Ju Kovina etwas aufgeregt und auch die anderen erwiderten den Gruß, als Merlin geräuschlos in das vage Lichte der Bälle trat. Die schauten gespannt zu der hohen Gestalt Merlins auf, die nun ganz in samtenes Dunkelblau gewandet, den Platz in der Mitte des Raums einnahm. Er trug einen Wanderstock, mit dem er einmal leicht auf den Steinboden klopfte, woraufhin das Rauschen des Meeres verschwand und völlige Stille einkehrte. 

„Wasn Trick!“ staunte Auro, „plötzlich is alles still, wasn Ding!“

Der Zauberer grinste selbstgefällig. „Ich habe nicht viel Zeit“, erklärte er, doch Auro unterbrach ihn direkt: „Sind wieder Drachen aufgetaucht, die wer bekämpfn muss? Ne, sicher is da irgendwo nen gefährlicher Zauberbann, der gebrochn werdn muss, nich?“

„Halt den Rand“, sagte Verva No, die ihn anfunkelte während Ju Kovina mit geschlossenen Augen dastand und sich vorstellte, dass Auro nicht da war. Sie wusste, dass die meisten anderen Menschen weniger Achtung vor Leuten wie Auro hatten. Sie hatte Angst davor, dass sich andere Leute beschwerten und sie wünschte sich, er würde sich kurz benehmen.

„Schon gut“, sagte Merlin ruhig, „es ist nichts dergleichen. Ich möchte morgen ein Hunderennen in Wales besuchen, da muss ich früh raus. Aber es gibt einen wichtigen Grund für unser Treffen!“

Ju Kovina öffnete die Augen wieder und sah, wie der Zauberer ein offenbar steinaltes Blatt Pergament aus dem Mantel zog und kurz ins schwache Licht hielt, bevor er es offenbar für zu dunkel hielt und mit seinem Stab erneut auf den Boden klopfte, woraufhin die Düsternis aus dem Raum verschwand, der nun hell erleuchtet von den Kugeln viel einladender wirkte. Auro öffnete staunend den Mund, doch Verva No stieß ihren Stiefelabsatz auf seinen Fuß und er schloß den Mund wieder. 

„Das ist für dich“, sagte Merlin und schaute Ju Kovina direkt an, „denn für mich ist es zu kompliziert.“

Ju Kovinas Wangen glühten vor Stolz, doch ihre Augen blickten mit Verwunderung auf das Pergament, das er ihr hinhielt, bevor sie es mit ihren weißen Handschuhen entgegen nahm. „Warum sollte ich etwas verstehen, was für sie zu kompliziert ist?“ fragte sie und studierte das Pergament. Nach nur wenigen Sekunden sagte sie: „Alte Chronik.“

Im Raum wurde es noch stiller als zuvor. Merlin nickte: „Ja, das dachte ich mir auch. Allerdings habe ich für diese Erkenntnis gut zwei Wochen gebraucht. Du siehst, warum ich es dir gebe? Du bist klüger als ich.“

Die alte Chronik war, passend zu ihrem Alter, in einer alten Schrift geschrieben. Im Gegensatz zu einfachen Schriften, wie Hyroglyphen, war die alte Schrift um ein vielfaches komplexer und in Fachkreisen war man sich einig, dass sie einfach einen fiesen Charakter hatte: Sie wollte nicht gelesen werden. Vielmehr verstand sie sich darauf, den in ihr geschriebenen Text so gut es ging zu beschützen und ja niemanden an ihn heran zu lassen. Er war ein Labyrinth, wenn man ein Wort las, veränderten sich alle anderen und zudem veränderten sich auch alle Regeln. 

„Ich habe Quellen, die besagen, dass diese Seite eine Art Prophezeiung enthält, die sich auf die Jahre nach dem Luja-Kalender beziehen.“

„Wasn das?“ erkundigte sich Auro, bevor ihn Verva No erneut treten konnte. 

Überraschenderweise meldete sich Fido der Gläubige mit der Antwort: „Das ist der einzige Kalender, der aus der alten Zeit bekannt ist. Er stammt aus der Zeit zwischen alter und neuerer Chronik, vermutlich wussten die alten Menschen bereits davon. Das ist interessant, denn es ist das einzige, was sowohl wir, als auch die Menschen aus der alten Chronik gekannt haben könnten.“

„Er wird aber nicht benutzt“, fügte Verva No hinzu, „denn er ist vollkommen dämlich. Ein Jahr hat 63,5 Tage und ein Tag nur Zwei Stunden. Außerdem wechselt er alle Zehn Jahre die Richtung. Die Schüler meiner ersten Klassen könnten einen besseren Kalender erfinden!“

„Der Kalender endet heute“, sagte Ju Kovina mit leiser Stimme. Merlin nickte. 

Auro sah besorgt drein: „Is das schlimm?“ fragte er und wich einem Tritt von Verva No aus. „Nein“, sagte Merlin, „es bedeutet nur, dass sich die Prophezeiung hier unmittelbar auf die bevorstehende Zeit bezieht.“

Ju Kovina wandte ihre Augen blitzschnell von dem Pergament ab: „Dann sollte ich es nicht lesen!“ rief sie entsetzt und warf das Pergament von sich. Sie schnippte mit den Fingern und eine Art Blase aus milchigem Glas schloss das Papier ein, wodurch man es nicht mehr erkennen konnte. 

„Richtig reagiert“, sagte Merlin, doch er sah traurig zu Boden, „jedoch bringt es nichts mehr. Ich habe bereits ein Wort gelesen.“

Ju Kovina starrte ihn an und Merlin hob den Kopf unverwandt: „Aber ich mache mir keine Sorgen. Ich habe es dir gegeben. Du kannst Dinge, die ich nie zu bewirken vermag.“

Er verneigte sich tief vor ihr und verschwand, so geräuschlos wie er erschienen war. Sofort kroch die Finsternis wieder aus den Wänden und das Rauschen drang in die Höhle hinein. „Wasn komischer Vogel!“ rief Auro und schlenkerte mit dem Schwert in der Luft herum, so dass Verva No sich mit einem Satz zur Seite geistesgegenwärtig in Sicherheit bringen musste. 

„Welches Wort hat er wohl gelesen?“ fragte Fido neugierig. Ju Kovina hatte das Pergament wieder aus der Zauberblase befreit und sah darauf hinab. „Vermutlich dieses hier“, sagte sie, und deutete auf das einzige Wort, was sich nicht veränderte, sondern wie eingebrannt an seiner Stelle verharrte. 

„Was machen wir jetzt?“ fragte Verva No. Ju Kovina deutete auf das Wort: „Wir müssen Less finden.“

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