Jiol II

Texas Holdem.

Eiskristalle. Aberhunderte von Eiskristallen hingen an den Vordächern und Regenrinnen der Häuser im Disomius Weg. Eiskristalle befanden sich auch an den Fenstern von Haus nummer 12. Das kleine Stück Rasen im Vorgarten und auch die Hecke waren eingefroren und glitzerten in der weit entfernten Sonne.

Im Flur stand ein hochgewachsener Junge von etwa 14 Jahren. Bolla, so hieß er, blickte besorgt in den Spiegel während eine rundliche Frau um ihn herumwuselte und ihn in etwa ein Dutzend Jacken einpackte, bis er schließlich aussah als wäre er eine 70er Jahre Couchgarnitur mit deutlich zu vielen Kissen. Sie krönte das Werk mit einem Schal der eigentlich überflüssig war, denn beim bloßen Anblick der vielen Jacken würde der eisige Wind vermutlich sowieso abdrehen; auch Wind weiß, wann er verloren hat.

Das wichtigste aber war der kleine handgeschriebene Zettel, den Bolla in der Tasche hatte. Er enthielt eine kaum leserliche Wegbeschreibung. Die Frau, offensichtlich zufrieden, hielt die Haustür auf und Bolla zwängte sich samt der dicken Jacken hindurch, stolperte über den Schal und fiel bäuchlings die Stufen der Eingangstreppe hinunter und polterte in den Vorgarten. Dort wurde er von den vielen Jacken abgefedert und hüpfte wie ein Flummi zurück in die Höhe. Besser gesagt er wurde gehüpft, denn Kontrolle über den akrobatischen Vorgang hatte er nicht. Die Arme für bessere Balance ausgestreckt wankte er ein wenig vor und zurück, bis wieder festen Stand fand. Er drehte sich um, winkte und verließ den Vorgarten. 

Die Straßen die er entlangging waren leergefegt und alles versprühte einen eisig blauen Glanz. Immer an den Straßenecken machte er Halt und schaute auf den Zettel, den er aufmerksam las. Zumindest versuchte er, die Keilschrift ähnlichen Runen zu entziffern. Problematisch war, dass dem Verfasser die für eine Wegbeschreibung elementaren Worte „links“ und „rechts“ offenbar Schwierigkeiten bereitet hatten. Stattdessen hatte er Pfeile gemalt, deren Ausrichtung aber mehr oder weniger Ansichtssache waren – hielt man den Zettel so herum, ging es nach links, hielt man ihn leicht gedreht, ging es nach unten. Doch je weiter Bolla ging, desto besser gelang es ihm die kleinen Nuancen zu erkennen, die ihm den Unterschied zwischen Rechts und Links anzeigten. Während er konzentriert dahin schritt, wurden die Häuser um ihn herum weniger und die Landschaft karger. Dann hörte die Landschaft ganz auf und was jetzt um ihn herum war entsprach dem, was sich Bolla unter Garnichts vorstellte. Doch auf eine wundersame Weise gefiel es ihm. 

So strichen die Stunden ins Land und Bolla durch eben dieses hindurch bis er mit einem lauten Rumpeln gegen etwas massives stieß. Er blickte auf und erkannte, dass er vor eine blaue Tür gelaufen war, die offenbar Teil einer sehr großen Halle war. Er machte einen Schritt zurück und sah sich um. Er war, ohne es richtig bemerkt zu haben, auf einen weitläufigen Parkplatz gelaufen. Er kramte den Zettel hervor und sein Herz machte einen Hüpfer: Das musste das Ziel sein! 

Die letzte Zeile verkündete „Halle mit blauer Tür“. Zumindest waren das die Begriffe, die Bolla den wirren Zeichen entnahm, denn wenn man etwas schräg auf den Zettel schaute konnte dort ebenso gut „Halloumi baut Tier“ stehen, doch das stimmte weniger mit dem überein, was Bolla vor sich aufragen sah. Er klopfte.

Die Tür schwang auf und ein Leiterwagen mit Weihnachtsmütze auf dem Kopf schaute hindurch. Bolla starrte ihn an –  der Leiterwagen starrte zurück. So verging eine Weile in der die Gedanken durch Bollas Kopf jagten.

Warum hatte er beim Theaterstück in der 5ten Klasse eine Parkbank spielen müssen? Warum musste er im Matheunterricht neben Bremer sitzen? Bremer lebte auf einem Bauernhof und hatte manchmal Dinge wie Spaltbeile dabei. Oder gefährlich anmutende Teile eines Mähdreschers, die er in der Scheune gefunden hatte. Er war nett, aber gemeingefährlich. Und warum, dachte er schließlich mit Blick auf den ihn anstarrenden Leiterwagen, wurde mir ausgerechnet dieser Praktikumsplatz zugeteilt? Er wusste es nicht. 

Eine Stimme dröhnte aus dem Inneren der Halle: „Platz da, Heinrich!“

Der Leiterwagen verschwand und nun trat ein ungewöhnlich großer Mann durch die Tür und strahlte auf Bolla hinab. Auch er trug eine Weihnachtsmütze. „Ich bin Jiol. Du musst Bolla sein, stimmts?“

Bolla schaute zu ihm auf. „Ja, der bin ich“, sagte er. Der Mann maß ihn mit seinen, wie Bolla erleichtert feststellte, freundlichen Augen. „Das sind sehr viele Jacken“, stellte er schließlich fest. „Ich dachte, dass man immer nur eine trägt. Hab ich wohl wieder was gelernt…Komm herein!“

Er machte eine einladende Geste und Bolla zwängte durch die Tür in eine Halle, die von innen noch viel größer schien als von draußen. Dann klappte ihm die Kinnlade runter: In der Halle standen hundert, wenn nicht noch mehr Fahrzeuge und alle trugen Weihnachtsmützen. Jiol schloss die blaue Tür und kramte eine große Weihnachtsmütze hervor und reichte sie Bolla: „Hier, ich hoffe sie passt.“

Bolla nahm sie. Sie passte. Nur halt nicht ihm, sondern zum Beispiel einem Elefanten. Er setzte sie auf und krempelte sie so oft um, bis er knapp darunter hervor sehen konnte. Jiol strahlte: „Wie angegossen!“

Bolla nickte vorsichtig, doch nicht vorsichtig genug und schon rutschte die Mütze herunter und er verschwand beinahe gänzlich darunter. Er schob sie wieder hoch und sah sich um. Jiol hatte einen großen Schraubenschlüssel geholt und trat auf ihn zu: „Du kannst deine Jacken dort hinten auf den Stuhl legen. Mal schauen ob er das Gewicht aushält. Dann kann ich dir deine erste Aufgabe zeigen!“

Bolla ging hinüber und zog seine vielen Jacken aus. Anschließend entdeckte er eine Rolle Klebeband auf einer der Werkbänke und fixierte damit die überdimensionierte Weihnachtsmütze. Gut vorbereitet wie er sich wähnte, trat er hinüber zu Jiol. „Ah, da bist du ja. Also, ich muss dich erstmal vorstellen.“

Mit diesen Worten ging er zwischen den langen Reihen von Autos entlang und strahlte in die Runde: „Das is Bolla! Unser Praktikant, seid nett zu ihm!“

Bolla folgte ihm zu einer Gruppe von Traktoren, die in der hinteren Ecke standen. Sie bildeten einen Kreis um einen runden Tisch mit grünem Filzbezug. „Hey hey!“ rief Jiol, „Das hier ist Bolla!“ 

Er schaute munter in die Traktoren Runde. Bolla stand daneben und nickte aus Gewohnheit freundlich von einem zum anderen. Dann dachte er darüber nach, was er gerade tat, und hörte blitzartig auf. „Also“, sagte Jiol und wandte sich ihm zu, „das sind Claas Cohiba, Emma, Gonzales, Mr. Fendt und Bossner Lambo.“

Bolla versuchte es zu übersehen, doch er kam nicht um das Gefühl herum, dass ihn die Traktoren ansahen. 

Jiol reichte Bolla eine kleine Mappe. „Kennst Du die Texas Holdem Regeln?“

Bolla öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Das ganze wiederholte er noch einige Male, bis er bemerkte wie dämlich er dabei aussah. „Ähhh, ich glaube nicht.“

„Nicht schlimm“, sagte Jiol sofort, „da steht alles drin“ und er deutete mit dem Zeigefinger auf das Heft in Bollas Händen. „Die Damen und Herren hier brauchen einen Spielleiter. Normalerweise macht das Lobbu, aber die ist seit Gestern unterwegs. Geheime Mission. Und ich muss etwas am Rolltor reparieren. Du kommst also gerade zur rechten Zeit!“

Mit diesen Worten verschwand er zwischen den Autoreihen. 

Bolla sah auf das Heft hinab. Er schlug es auf und fand ein recht üppiges Regelwerk. Er spürte die Blicke der Traktoren auf sich ruhen und es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. Er las angestrengt, doch irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Ohne drüber nachzudenken sah er auf und sagte: „Schaut mich nicht so an, so kann ich mich nich konzentrieren!“ 

Er sah es im Augenwinkel und als auch die anderen Traktoren klapperten konnte er es nicht übersehen: Auf den Nummernschildern der fünf waren plötzlich Dinge wie „Ups, kein Stress“ und „wir sind doch nur neugierig“ zu lesen. Bolla wollte seinen Augen nicht trauen. „Ihr…könnt reden?“

Einer der Traktoren schüttelte den Kopf und auf dem Nummernschild schrieb sich: „Wer schreibt den sowas?!“

Eine gute Stunde später saß Bolla an dem grünen Tisch und verschob Chips. Die Traktoren schrieben wild durcheinander und Gonzales trug plötzlich eine getönte Sonnenbrille und am schmalen Auspuffrohr von Mr. Fendt glitzerte eine Rolex. Doch dann erstarb das Klappern. Bolla sah verdutzt auf. Er sah Emmas feixendes Nummernschild: „Sieht so aus, als müsste sich Claas Cohiba gleich wieder was leihen?“

Der genannte bekam rosa Schutzbleche und feuerte zurück: „Pass auf, sonst setz ich 50. Das reicht aus damit du All In gehen musst.“

Jetzt war es Emma, der die Zornesröte in die Motorhaube stieg: „Du hast nicht mal genug um 50 zu setzen!“

Im nächsten Moment sprang Bolla zur Seite: Claas war auf Emma zugerollte, die ihm jedoch wütend entgegensetzte. Es schepperte und Bolla hielt sich die Ohren zu. Dann sah er Jiol herbei stürmen, der eine große Matratze zwischen die beiden Streithähne warf, was ihren erneuten Versuch gegeneinander zu dreschen vereitelte. Jiol war wütend: „Was soll denn unser Praktikant denken? Könnt ihr euch denn nicht fünf Minuten benehmen?“

So ging es eine ganze Weile weiter, bis schließlich beide Traktoren beschämt zu Boden blickten. 

„So, ich denke du hast dir eine Pause verdient“, sagte er anschließend zu Bolla und ging mit ihm zurück zum Eingang. „Es fehlt wahrscheinlich einfach noch ein wenig Weihnachtsstimmung“, murmelte er. „Vielleicht vertragen sie sich endlich mal, wenn wir den Weihnachtsbaum aufstellen. Wird Zeit das Lobbu wiederkommt“

 Sie setzten sich an einen kleinen Tisch und Jiol stellte eine große Packung Plätzchen darauf. Ja, dachte Bolla, von allen Praktikumsstellen erwische ich die mit pokernden Traktoren. Aber eigentlich (er nahm sich einen Keks), eigentlich wäre die Alternative ja auch langweilig. 

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