Aquarium

„Was ist damit?“ fragte ein Junge. Auch die anderen der Klasse schauten auf.

Ein Aquarium.

„Aufmerksamkeit ist unfassbar wichtig. Zumindest hier, für den Rest der Welt möchte ich mich nicht festlegen.“

Mit dieser Antwort war der Junge nicht zufrieden, aber auch zu höflich, um auf eine weitere Erklärung zu bestehen. Der Lehrer musterte ihn mit unergründlicher Miene. Der Mann vor der großen Scheibe fuhr fort. „Wenn ihr euch umschaut, seht ihr lauter Dinge. Alles voll. Eigentlich ist euer gesamtes Blickfeld voll, oder sieht jemand von euch irgendwo eine leere Stelle?“

Der Junge, der zuvor bereits gefragt hatte, meldete sich erneut. „Ja bitte?“ ermutigte ihn der Mann vor der großen Scheibe freundlich. Der Lehrer schaute ebenfalls zu ihm herüber.

„Dort ist eine leere Stelle“, sagte er recht sachlich. Dabei deutete er auf eine Ecke neben einer Infotafel.

Der Mann lächelte. „Was siehst Du dort?“

„Die leere Ecke dort“ erwiderte der Junge. Er nahm den Museumsführer in keiner Hinsicht ernst.

Der meinte: „Aber dann siehst Du ja doch etwas! Du siehst eine Leere Ecke!“

Das Feierliche in seiner Stimme prallte an der verständnislosen Klasse ab. Der Mann fuhr fort: „Wir stimmen also überein, dass wir überall etwas sehen, richtig?“

Die Klasse nickte, eher mitleidsvoll.

„Hier kommt die Aufmerksamkeit ins Spiel, denn wir sind oftmals naiv und glauben, dass wir mit einem Blick alles gesehen haben. Wir vergessen dabei vollkommen, dass es vielleicht eine ganze Reihe an Dingen gibt, die wir zwischen all den Sachen erst bei genauerer Betrachtung sehen!“

Das klang merkwürdig, aber tatsächlich gar nicht so dumm wie das restliche Geschwafel.

„Das wichtigste habe ich euch dabei noch nicht einmal erzählt. Es ist nämlich so, dass sich Dinge auf bestimmte Weisen verhalten. Besonders die wichtigen Dinge verstecken sich häufig. Die belanglosen drängen sich hingegen in den Vordergrund. Wenn wir interessante Dinge sehen wollen, müssen wir also aufmerksam sein!“

Mit diesen Worten wandte er sich zur Scheibe und zeigte mit einer Tonne voll Enthusiasmus auf eine denkende Alge. Die Klasse schaute. Höflich und Aufmerksam.

„Die Vielfalt von Algen zeigt sich erst beim ausführlichen Studieren der…“ bei diesen Worten verabschiedete sich die Aufmerksamkeit höflich aus dem Gang.

Während der Museumsführer mit fanatischer Faszination die Alge hinter der Scheibe betrachtete, stahl sich der Junge davon. Drei andere Schüler folgten ihm ebenso ungesehen.

Leise hinter die Ecke gebogen, begannen sie leise zu reden, während sie sich möglichst unauffällig an den anderen Besuchern vorbeischlängelten. Es war ein sehr großes Aquarium und ein sehr schönes obendrein.

„Was machen wir jetzt?“ fragte einer.

„Weiß nicht“, antwortete ein Mädchen.

Sie durchquerten die alten Gänge und beobachteten ihre Schatten im bläulich schimmernden Licht.

Ein anderes Mädchen ging voraus. Da blieb der Junge abrupt stehen. Die anderen stolperten gegen ihn und schauten ihn vorwurfsvoll an. Auch ein paar der älteren Besucher blickten empört über die gar unhöfliche Störung ihrer Freizeitgestaltung. Aquariumsbesucher sind sehr empfindlich. Der Junge bekam von all dem nichts mit. Er starrte durch die Scheibe.

„Komm weiter“ zischte das Mädchen. Auch das hörte er nicht. Er trat einen Schritt auf die Scheibe zu.

Als er schließlich über die kleine Absperrung vor dem Glas kletterte schauten die älteren noch viel empörter. Erst hatten die Jugendlich ein Geräusch verursacht und jetzt begann einer von ihnen zu randalieren! Eine Straftat, wie sie fanden.

Mit dieser Ansicht waren sie fast die einzigen im Raum, denn sowohl der Absperrung als auch den Fischen war es herzlich egal. Einzig das Mädchen zog ihn zurück: „Komm, nicht schon wieder!“ flüsterte sie besorgt. Sie war seine Schwester.

„Bitte nicht schon wieder“, wiederholte sie.

Dann trat der Junge geradewegs durch die Scheibe hindurch, ganz als wäre sie Luft. Das Mädchen kletterte verzweifelt hinterher.

Die Aquariumsbesucher drehten sich instinktiv weg. Sie mochten keine ungewöhnlichen Dinge und schützten sich mit aller Kraft davor.

Sie befanden sich am Rand eines sehr großen und dunklen Wasserbeckens. Die anderen zwei standen vor der Absperrung und beobachteten sie durch die Scheibe. Der Junge schritt durch bunte Wasserpflanzen, die den Boden fast vollständig bedeckten. Seine Schwester schaute sich ängstlich um.

„Wir dürfen hier nicht sein!“

„Eben darum“, antwortete ihr Bruder.

„Du darfst nicht immer sowas machen“ beschwerte sie sich.

„Der Typ hatte keine Ahnung. Keiner der Leute hier weiß irgendwas und ich kann es nicht haben, wenn uns die Lehrer und anderen Leute für unaufmerksam halten. Wie verlogen, sehen sie doch das allerwenigste, selbst wenn es direkt vor ihren Augen ist!“

Er stapfte wütend, wütend voran. Pflanzen streiften seine Beine und eine Flunder verzog sich eilends.

Wasser wird dunkel, wenn es tief ist und es war sehr tief. Sie waren so weit gegangen, dass die Scheibe außer Sicht geraten waren, als der Junge vor sich auf den Boden deutete: „Das sehen sie nämlich nicht!“

Seine Schwester schaute an ihm vorbei und sah eine kleine, schwarze Muräne. Das Wasser um sie herum schien schwarz und sie zitterte. „Was ist mit ihr?“ fragte sie besorgt.

Ihr Bruder antwortete nicht, stattdessen neigte er sich und hielt dem Tier vorsichtig seine Hand hin. Es zitterte weiterhin.

„Niemand kann sie sehen, nur wir“, sagte er.

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und zog seine Arme durch das Wasser. Ein kleiner Strudel erwachte und wurde größer. Winzige Luftbläschen strömten in die Höhe. Der Junge stieß sich vom Boden ab und stieg nach oben. Seine Schwester tat es ihm gleich. Ein Blick nach unten zeigte, wie sich ihnen viele Fische anschlossen. Nach einer Weile drangen Lichtstrahlen zu ihnen und dann, ohne Vorwarnung, tauchten sie auf. Große Wellen umspülten ihre Köpfe, ohne Kontrolle trieben sie auf dem offenen Meer hin und her. „Was machen wir hier?“ prustete sie.

„Solange warten, bis alle da sind.“

Mit diesen Worten tauchte er den Kopf wieder unter Wasser. Immer mehr Fische strömten in die Höhe und verteilten sich in alle Richtungen im Ozean.

„Lass uns ein wenig in diese Richtung schwimmen“ sagte er, doch die Wogen waren zu stark.

„Egal, die Pflanzen kriegen das schon hin“, sagte er nach einiger Anstrengung und tauchte wieder unter.

Sie tauchten zurück in die Dunkelheit, bis hin zu der Stelle, an der die Muräne gelegen hatte.

„Wo ist sie hin? Ist sie auch nach oben gestiegen?“ fragte sie.

„Es gibt sie nicht mehr. Aber das ist nicht schlimm, ganz im Gegenteil“, antwortete er und wandte sich in Richtung der Scheibe. Sie folgte ihm, besah den leeren Boden und verstand plötzlich. „Es gab sie gar nie, oder?“ fragte sie.

„Natürlich nicht“, sagte er und lächelte.

Von der Scheibe aus sahen ihnen die zwei Freunde entgegen. „Wo wart ihr solange? Wir müssen zurück zur Klasse, bevor wir auffallen.“

Gemeinsam schlenderten sie betont unauffällig durch die Gänge des Aquariums. Manchen Besuchern fiel auf, dass die Fische langsam weniger wurden. Niemand dachte sich jedoch etwas dabei, aus Angst vor einer unerklärlichen Begebenheit.

Die Klasse stand gerade vor einer großen Infotafel und lauschte dem Mann davor. Der Lehrer stand am Rand und sah ausdruckslos zu. Leise mischten sie sich zurück unter die Schüler. Niemand hatte ihr zwischenzeitliches Verschwinden bemerkt.

Ein paar Minuten verstrichen, dann meldete sich der Junge.

„Ja bitte?“ fragte der Museumsführer.

„Entschuldigen Sie, meinten Sie vorhin Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich alles richtig verstanden habe.

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