„Strengt euch gefälligst an!“ erklang eine scharfe Anweisung. „Ihr da! Zieht gefälligst mit voller Kraft an den Seilen, wenn ich es sage.“

Es war alles ziemlich anstrengend. Es ging Bergauf und die Fracht war schwer und rund, eine gefährliche Kombination, zumindest wenn sie ins Rollen kommt. Es kostete die Truppe einige Anstrengung und den Anführer eine Menge Nerven. Dann waren sie und die Beere an ihrem Ziel.
„Ich schlage vor, wir rollen sie einfach hinein“, sagte er und überlegte kurz. „Ja, das sollte funktionieren.“ Sie gehorchten, wurden fast im gleichen Moment hochgeschleudert und landeten allesamt im tiefen Gras.
Nev wachte mit einem Schlag auf und erlitt einen dezenten Hustenanfall. Er prustete, schüttelte sich und sah mit Tränen in den Augen auf. Er saß inmitten von hohem Graß, um sich herum rappelten sich kleine Gestalten auf und sahen ihn erschrocken an. Er schaute nicht minder verwundert zurück, bis ihn die Erinnerung an den Abend zuvor erreichte. Einer der Gnobbel trat vor: „Entschuldigen Sie vielmals, Sir. Wir dachten, wir geben ihnen ein leckeres Frühstück!“
„Mögen Sie keine Beeren?“ fragte ein anderer Gnobbel. Dann verstand Nev: „Ich mag Beeren. Aber nicht in meiner Nase!“
Einer der Gnobbel stand nachdenklich am Rand: „Wusste doch, dass wir etwas übersehen haben.“
Das war das Stichwort, dass Nevs Gedanken auf etwas neues lenkte: In der Ferne sah er Berge aufragen. Sehr hohe Berge, egal in welche Richtung er schaute. „Waren die Berge gestern schon hier?“ fragte er die kleinen Wesen. „Nein“, erwiderte einer von ihnen.
Nev wartete auf eine weitere Erklärung, doch offenbar hielten die Gnobbel seine Frage damit für beantwortet. „König Eduard hat gerade einen sehr wichtigen Gast aus dem Fernland. Danach möchte er sicher mit ihnen zu Mittag essen“, teilte ihm der erste mit.
„Ähm“, warf Nev ein, „Ich muss eigentlich pünktlich zurück zur Tram“ und er schaute besorgt auf die aufgehende Sonne. Er musste sich beeilen, wenn er die Tram erwischen wollte.
„Wann müssen Sie denn dort sein?“
„Um 9 Uhr“, antwortete Nev. Das brachte ein gewisses Erstaunen in die Gesichter der Gnobbel. „Sie sind ein sehr, sehr schneller Mensch!“, brachte ein augenscheinlich junger Gnobbel ehrfürchtig hervor. „Warum?“ fragte Nev verwundert. Er war in der tat recht schnell, im Sportunterricht meist sogar der erste. Aber nicht so schnell, dass man darüber staunte. „Es müsste ungefähr eine Quatschmeile bis dorthin sein“ sagte der junge Gnobbel. „Wie viel ist eine Quatschmeile?“ fragte Nev.
„Ungefähr 870 Meilen“, gab der Gnobbel Auskunft. „Aber ich bin gestern von dort zu Fuß hierhergekommen! Ich bin bestimmt keine 870 Meilen gelaufen“, widersprach er.
Noch bevor einer der Gnobbel etwas gesagt hatte, dämmerte es Nev bei einem erneuten Blick in Richtung der Berge. „Wir sind nicht mehr dort, wo ich gestern eingeschlafen bin, stimmts?“ fragte er.
„Unser kleines Reich der glühenden Zapfen wechselt jede Nacht ihren Standpunkt. Wir wissen nicht genau warum, unsere Gelehrten beschäftigen sich seit Jahrhunderten mit dieser Frage. Es hat vermutlich mit den Zapfen zu tun. Sie möchten möglichst viel von der Welt sehen, aber niemand weiß warum und wie genau sie es anstellen.“
Das klang nicht gerade erfreulich. „Woher wusstest Du, dass es 870 Meilen bis zur Tram sind?“
„Oh, das liegt an den Bergen! Wir sind inmitten vom Gebirge des Ruhms. Die Berge sind sehr hoch, daran erkennt man sie. Sie sind so wundervoll. Eines Tages möchte ich dorthin. Ganz oben auf den Gipfel. Es wäre eine so abenteuerliche Reise!“ Sein Blick verlor sich in der Weite und er seufzte schwer.
Auch Nev überkam eine Sehnsucht, in das Gebirge zu klettern. Er lehnte sich zurück. Es hatte wohl keinen Zweck, zur Bahn zu rennen, wenn er sich hunderte Meilen entfernt davon befand.
Mittlerweile war die Sonne über den Horizont hinweg und stieg unaufhaltsam in die Höhe. Auf der Wiese hatte ein geschäftiges Treiben begonnen. Es gab eine Menge von sonderbaren Pflanzen und auf einem großen Beet bauten die Gnobbel die glühenden Zapfen an. Nahe am Zaun war eine weite Fläche, auf der die Grashalme offensichtliche kurzgeschnitten worden waren. Dort trainierten eine ganze Schar Kampfgnobbel mit kleinen Lanzen und Schilden. Nev saß an dem Busch, an dem Beeren für Menschen wuchsen. Sie waren lecker und er bediente sich auf Anweisung der Gnobbel. Sie würden die großen Beeren sowieso nicht mögen und hätten den Strauch nur für Gäste.
Durch das Hohe Gras stapfte der junge Gnobbel vom Morgen auf ihn zu. „Bist Du allein mit der Tram gefahren?“ fragte er schüchtern. Nev schaute überrascht hinunter. „Ja“, sagte er.
„Die Alten erzählen immer, dass früher sehr viele Menschen hier waren. Du bist der erste, den ich gesehen habe.“ „Ich bin durch Zufall in die Bahn gestiegen. Sie stand vorletzte Nacht einfach in meiner Straße. Eigentlich müsste ich so schnell es geht zurück zu Tram, damit ich zurück nach Hause komme“, erzählte Nev und sah in Richtung der Berge. Der junge Gnobbel folgte seinem Blick. „Sie sehen großartig aus, nicht wahr?“
„Schon“, sagte Nev, „Wie heißt Du eigentlich?“
„Ich bin Hal“ stellte sich der Gnobbel stolz vor. In dem Moment traten zwei der Kampfgnobbel an den Strauch: „König Eduard hat seine Gäste soeben verabschiedet und möchte Sie zum Mittagessen einladen!“ „Es gibt eine Preiselbeere!“ fügte der andere hinzu.
Der König erwartete ihn am anderen Ende der Wiese. Nev saß inmitten einer Gesellschaft der gelehrten Gnobbel und aß ein Stück Preiselbeere.
„Nun, mir scheint, es geht darum, Dich möglichst schnell wieder zu der Tram zu bringen“ stellte der König fest. „Es gibt verschiedene Stationen, wie Dir sicher bekannt ist. Die Schienen führen durch die ganze Welt.“
„Er könnte eine weitere Nacht hier schlafen und hoffen, dass uns die glühenden Zapfen in die Nähe einer der Stationen bringen“, schlug einer der Gelehrten vor. „Und was ist, wenn sich die glühenden Zapfen entscheiden, uns zu den Weilern zu bringen? Zuletzt hat es ein ganzes Jahr gedauert, bis wir wieder in die Nähe der Schienen gekommen sind.“
„Stimmt“, sagte der erste. „Eine Quatschmeile ist vergleichsweise wenig. Er sollte sich auf den Weg machen.“ Das klang nicht gut, irgendwie. Aber es klang trotzdem verlockend. Er würde das Gebirge sehen. Er lies die Gelehrten weiter diskutieren und träumte von der Ferne.
Eine halbe Stunde später hatte man sich entschieden und der König befand es ebenfalls für das beste: Nev sollte aufbrechen und zu Fuß zurück zur nächsten Station gelangen.
„Jetzt sofort?“ fragte Nev. „Je eher desto besser“, sagte der König. Jetzt wich die Verlockung einem Umzugskarton voller Sorgen. „In welche Richtung muss ich denn gehen?“ fragte er. Da meldete sich ein Gelehrter zu Wort, der die ganze Zeit zuvor kein Wort gesagt hatte und nur nachdenklich zugehört hatte. „Gebt ihm eine Orientation“, sagte er.
Stille folgte. „Eine Orientation?“ fragte Nev. „Meint ihr eine Landkarte?“
Der Frage folgte ein allgemeines, mildes Lächeln. Nev schaute noch fragender als zuvor. „Sir“, sagte ein Gelehrter, „unsere Wiese ist nicht das einzige, was sich hier bewegt. Es gibt nur wenige Dinge in dieser Welt, die faul genug sind, um an Ort und Stelle zu verweilen. Wenn man eine Karte zeichnen würde, wäre sie nach ungefähr einer Sekunde schon veraltet und nutzlos.“
Jetzt war es ein außergewöhnlich großer Umzugskarton voll Sorgen, der auf Nevs Vorfreude fiel.
„Deswegen sage ich: Er braucht eine Orientation“, wiederholte der alte Gelehrte. „Gut“, willigte der König ein. Zwei Wächter wurden losgeschickt und kamen mit einer glühenden Beere zurück. Nev wollte schon danach greifen, als ihn der König zurückwies. Nev gehorchte und blieb sitzen. Die Wächter schafften eine Steinschleuder herbei. Noch ehe Nev verstand, flog die leuchtende Beere mit einer solchen Wucht gegen seine Brust, dass er hintenüberfiel und einen Momentlang liegenblieb. „Was sollte das denn?“ fragte er. „Das wirst Du bald merken“, sagte der alte Gelehrte. „Es ist das einzige, was einem hier den Weg zeigen kann.“
Er zwinkerte, dann standen die anderen auf und gingen in Richtung des Zaunes, hinter dem sich jetzt eine weite Ebene erstreckte. In der Ferne war der Fuß des ersten Berges. Plötzlich vernahm Nev eine Stimme unter sich. Er erkannte Hal. „Gehst du zum Gebirge?“ fragte dieser.
„Ja“, sagte Nev, während die Gelehrten und der König vorausgingen. Der junge Gnobbel biss auf seiner Lippe herum. Dann rang er sich zu etwas durch: „Darf ich mitkommen?“ fragte er. Nev blickte erstaunt. „Wohnst du nicht hier? Du musst doch wieder zurück?“
„Ja schon“, erwiderte Hal, „Aber manche von uns gehen auf Abenteuerreise. Irgendwann finden sie zurück zur Wiese, ganz automatisch. Hat mit den Zapfen zu tun.“
Nev überlegte. „Was ist mit Deiner Familie?“ fragte er. „Ich habe heute Morgen gefragt und ich darf. Es ist nicht ungewöhnlich, dass junge Gnobbel auf Reise gehen.“ versicherte ihm Hal.
Vielleicht war es nicht schlecht, jemanden dabei zu haben, der sich in diesem Teil der Welt auskannte, dachte Nev. Außerdem war es sicher einsam, eine Quatschmeile lang allein umherzuwandern. „Okay!“ sagte er endlich, als sie den Zaun schon fast erreicht hatten.
Dann wurde er umständlich und mit vielen Glückwünschen verabschiedet. Der König reichte ihm einen glühenden Zapfen: „Sie sind nützlich. Vermutlich.“
Auch Hal wurde verabschiedet und war ganz aufgeregt, als ihm der König persönlich die Hand gab. Nev schwang sich über den Zaun, Hal kletterte drunter durch und dann standen sie zu weit auf einer trockenen Endlosigkeit.
„Ich würde sagen“, begann Nev, doch Hal vollendete den Satz: „Auf geht’s!“
Eine Fortsetzung ist so sicher wie Ellbogenschützer.