„Sir, wenn Sie mir nicht antworten, muss ich meinen Weckmechanismus in Gang setzen und dass wollen Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht riskieren!“
Die blechernen Worte rissen Nev aus einem ungemütlichen, aber tiefem Schlaf. Er schlug die Augen auf und sah die Decke eines sonnenlichtbeschienenen Bahnwagons, an der zahlreiche Werbeplakate hingen. Das war nicht weiter schlimm, bis zu dem Moment, in dem sein Gehirn wach genug wurde, um über das Gesehene nachzudenken: Mit einem Satz war er auf den Beinen und besah sich seine Umgebung. Wo war er?
Ganz leise flüsterten ihm die Holzbänke und der restliche Wagon die Erinnerung an die vergangene Nacht zu. Er erinnerte sich, wie er unbemerkt aus dem Haus geschlichen war und die Tram, in der er jetzt stand, entdeckt hatte. Dann gab ihm die blecherne Stimme einen kleinen Stups in Richtung Gegenwart, indem sie fragte: „Möchten Sie hier aussteigen, oder ziehen Sie eine andere Haltestelle vor?“
Jetzt erst bemerkte er den kleinen Bahnsteig, an dem die Bahn wohl zum Stehen gekommen war.
„Öhm“, sagte Nev zögernd, „wo sind wir denn hier?“
„Nimmo“ sagte der Kasten mit einer erhabenen Selbstverständlichkeit, dass Nev sich kaum traute, weiter nachzufragen. Trotzdem rang sich Nev durch und fragte: „Und was gibt es in..Nimmo?“
Der Kasten ratterte und blinkte: „Ich weiß nicht genau, Sir. Früher war es sehr schön, aber es war ewig niemand mehr hier. Ich habe aufgehört die Jahre zu zählen seitdem niemand mehr mitgefahren ist“ und seine Stimme verstummte, etwas traurig. Das regte Mitleid in Nev, der nach einer fröhlichen Antwort suchte und dabei aus dem Fenster sah: „Es sieht immer noch sehr schön aus. Wie wäre es, wenn ich aussteige und nachher erzähle wie es draußen ist?“
Das schien den Kasten tatsächlich zu freuen, doch seine Antwort entsprach nicht gerade Nevs Hoffnung, als er verkündete, nicht auf ihn warten zu können. Er müsse, auch wenn sonst niemand da war, den Fahrplan einhalten.
Kurz darauf stand Nev auf dem Bahnsteig und schaute mit einem etwas mulmigen Gefühl der Tram hinterher, die mit zunehmender Geschwindigkeit davonrauschte. Schließlich war sie ganz verschwunden. Er sah sich in seiner neuen Umgebung um. Der Bahnsteig lag in einer Lichtung, mitten im Wald. Es war Moos auf den Steinen und neben den Gleisen wuchsen wilde Blumen.
Der Kasten hatte ihn noch gemahnt, gegen Nachmittag zurück am Bahnsteig zu sein. Von diesem aus führte ein lehmiger Weg geradewegs in den Wald hinein und weil es keinen anderen gab, machte sich Nev auf den Weg ihm zu folgen. Bald endete der Wald und der Weg führt durch ein schier endloses Feld. Es war ein wunderlicher Anblick, inmitten eines Meeres aus von der Sonne vergoldeten Weizenähren zu stehen.
Nur Häuser gab es nicht, ebenso wenig hatte Wegschilder gesehen. Wo war er?
Er ging einen Feldweg entlang bis ihn plötzlich etwas stutzen lies: Vor ihm auf dem Boden zeichneten sich gewaltige Fußabdrücke ab. Er folgte ihnen. Weiter vorn führten sie vom Weg ab, hinein in das große Feld. Die Blumen, Halme und Zweige waren umgeknickt, von Pfoten die augenscheinlich größer als ein Traktorreifen waren.
Er wünschte sich, ein wenig Ahnung davon zu haben, denn er konnte sie keinem Tier zuordnen. Er machte sich eine Notiz auf dem imaginären Zettel in seinem Kopf, auf dem all die Dinge geschrieben standen, die er sich gerne aneignen würde. Ein recht langer Zettel.
Plötzlich blitzte, vom Sonnenlicht angestrahlt, seine Armbanduhr auf und verblüfft stellte er fest, wie spät es bereits war. Es war Nachmittag.
Er lief los, den Feldweg entlang zurück bis zum Wald. Er war froh, als er den Schatten erreichte und stützte die Hände auf die Knie, um kurz durchzuatmen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass eigentlich November war und das Wetter alles andere, nur nicht Novembermäßig war. Doch dafür gab es jetzt keine Zeit zum Nachdenken. Er musste weiterlaufen, um die Tram zu erwischen.
Auf dem schattigen Waldweg ging es leichter voran. Endlich kam der kleine Bahnsteig in Sicht.
Er sprang die steinernen Stufen empor und schaute nach links und rechts, horchte auf herannahende Geräusche die eine Tram ankündigen würden. Noch war kein Zug zu sehen. Er schaute auf seine Uhr, die ihm späten Nachmittag verkündete. War die Tram schon abgefahren, ohne ihn?
Er ärgerte sich, dass er nicht nach einer genauen Uhrzeit gefragt hatte. Im Nachhinein war es dumm gewesen, sich so weit von der Lichtung zu entfernen.
Er wollte sich gerade auf der Bank niederlassen, als er einen kleinen Zettel auf dem Boden liegen sah. Er hob ihn auf und las:
Der Fahrplan ruft, ich konnte nicht warten.
Nimm dich vor dem Wolf in Acht, nimm den kleinen Pfad.
Morgen früh um 9 bin ich wieder hier.
Wie auch immer der Zettel hierher gelangt war, der kleine Kasten musste ihn irgendwie auf den Bahnsteig befördert haben.
Am Ende der Plattform fand er tatsächlich einen kleinen Pfad. Eilig folgte er ihm, in der Hoffnung, dass die überdimensionierten Abdrücke auf dem Feld nichts mit dem erwähnten Wolf zu tun hatten.
Der Weg schlängelte sich durch Bäume und kleinere Pflanzen hindurch, die immer sonderbarer wurden. Manche von ihnen leuchteten. So machen das Pflanzen oft, wenn sie in Zauberwäldern wachsen. Der Weg führte in eine andere Richtung als der Weg, dem er am Mittag gefolgt war. Immer tiefer gelangte er in den Wald und immer tiefer sank auch die Sonne.
Dann wurde es sehr plötzlich sehr dunkel. Er hörte Schritte neben dem kleinen Pfad, doch wenn er stehen blieb und angestrengt in die Finsternis sah, war dort nichts. Er beschleunigte seine Schritte, bei den vielen Wurzeln konnte er jedoch unmöglich rennen. Wenn er es nur endlich erreichen würde…Was erwartete er eigentlich? Die Botschaft war nicht besonders präzise gewesen. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass ihn der Kasten wohl zu einer Art Unterschlupf schicken würde.
In der Hoffnung, schon mehr als die Häfte hinter sich zu haben, stolperte er weiter. Dann erblickte er Licht, nicht weit vor ihm. Der Pfad endete an einem Gatter, welches eine Wiese voll hohem Gras umgab. Der Mond beschien die Szene wie Scheinwerfer eine leere Bühne. Es war kalt.

Er eilte sich über das Gatter zu klettern und im selben Moment veränderte sich etwas; Eine dicke Wolke zog vor den Mond, doch nun leuchtete etwas anderes: Durch das hohe Gras glühten kleine Blüten, neben dem Zaun ein paar Pilze. Vor seinen Füßen lag ein Tannenzapfen, der ebenfalls vor sich hin glimmte. Er lies das Gatter hinter sich und schritt auf die Weide.
„Herzlich willkommen im kleinen Reich der glühenden Zapfen!“ erklang da eine helle Stimme aus dem Gestrüpp. Ein kleiner Gnom trat vor, mit überdimensionalem Pinienzapfen als Kopfbedeckung.
Nev starrte ihn an. Eigentlich wäre er vor Schreck zusammengezuckt, doch im Vergleich zu dem unheimlichen Wald wirkte er nicht sehr bedrohlich. Bei dem Gedanken an den Wolf drehte er sich jedoch um: Das Gatter würde einen Wolf wohl kaum aufhalten. Er sah wieder zum Gnomen und dann über ihn hinweg, in der Hoffnung eine Hütte oder kleinen Unterschlupf zu sehen. Der Gnom wartete geduldig, bis er sich seiner Aufmerksamkeit wieder sicher war: „Haben Sie keine Sorge wegen dem Wolf, der traut sich hier nicht hin!“
Nev sah ihn und fragte sich, was den Wolf denn so verängstigen würde. Dann entsann er sich seiner Manieren: „Darf ich fragen wer Du bist? Und auch“, fügte er höflich hinzu, „Was du bist?“
„Ich bin Eduard, König der Gnobbel! Mein Volk wacht über die glühenden Zapfen.“
Das klang einleuchtend. „Warum traut sich der Wolf nicht hierher?“ fragte Nev.
Der Gnobbel rückte den Pinienzapfen zurecht: „Nun, das ist ein Mysterium, aber wir erklären es uns so: Genau dort, wo der Wolf seine Schwächen hat, haben wir Gnobbel unsere Stärke. Wo genau das ist, wissen wir allerdings nicht. Darf ich fragen wer der junge Gast ist?“
„Ich bin Nev“, sagte Nev. Der Gnobbel maß ihn mit einem interessierten Blick: „Du kommst aus der Tram, richtig? Es ist ewig niemand mehr dahergekommen. Früher waren es viele, die die Welt kannten…“ er seufzte tief.
„Was meinst du damit? Kennen denn heute nicht mehr viele die Welt?“
„Doch doch, sicher kennen noch viele die Welt. Aber nur wenige kennen unsere..“
„Eure?“, erwiderte Nev, „Bin ich denn nicht in der normalen Welt?“
Er lebte viel zu sehr in seiner Fantasie, als dass er die Existenz von sprechenden Ticketentwertern und Gnobbeln in Frage stellten würde, aber er war sicher nicht in eine andere Welt gereist! Die Bäume hatten recht normal ausgesehen, außerdem gab es den Mond.
„Keine Angst“, sagte der Gnobbel und rückte den Pinienzapfen auf seinem Kopf zurecht, „Du bist schon noch auf der gewohnten Welt. Aber diesen Teil hier besuchen nur die wenigsten.“
Während der ganzen Unterhaltung lies Nev das Gefühl nicht los, dass etwas auf der anderen Seite des Gatters lauerte. Er drehte sich um, doch da war nichts.
„Sind Sie sicher, dass es..“ doch der Gnobbel unterbrach ihn: „Ah, wie ich sehe macht dir eine Besonderheit des Waldes Angst. Es ist eine eher seltene Tierart, sie heißen Schritte. Die leben in der Umgebung und sind nachtaktiv, dann hört man sie.“
Plötzlich raschelte es im tiefen Gras und ein weiter Gnobbel kam zum Vorschein. Er trug einen leuchtenden Tannenzapfen auf dem Kopf und hatte große Augen: „König Eduard, die Preiselbeere ist angerichtet!“ rief er und überschlug sich beinahe vor Aufregung.
Das schien Eduard zu freuen: „Oh, welch ein Schmaus! Sag den anderen, ich komme sofort!“ flötete er eine Oktave höher als zuvor und wandte sich dann wieder Nev zu. „Du solltest unbedingt hierbleiben, anderswo ist es zu gefährlich. Dort hinten ist ein Strauch mit Beeren für Menschen, falls Du Hunger hast. Jetzt entschuldige mich, es gibt Preiselbeere!“ und er verschwand zwischen großen Halmen und leuchtenden Blüten.
Eine Fortsetzung ist gewiss!