Licht fiel ins dunkle Zimmer. Nicht viel, aber immerhin ein bisschen. Natürlich fiel es nicht, Licht kann gar nicht fallen. Aber das sagt man eben so.
Es hatte seinen Ursprung in einer der wenigen Straßenlaternen, die eine recht kühle Novembernacht spärlich beleuchteten. Das Zimmer von Nev lag im vierten Stock und war eher unordentlich, was an Nev lag. Alles war unordentlich um ihn herum, sogar die vielen Gedanken in seinem Kopf. Das hing vermutlich zusammen. Ein einzigartiges Chaos. Aber immerhin war es einzigartig.
Das Licht war eher schwach, außerdem flackerte es gelegentlich. Nev hatte sein Bestes gegeben, es mit dem vor dem Fenster platzierten Kleiderständer abzuschirmen.
Er konnte nicht schlafen und langsam wiederholte sich seine Playlist wie die Jahreszeiten. Er starrte an die Wand und versuchte das Chaos zu übersehen. Das einfallende Licht bewegte sich. Nun, sicher probierte die Laterne unten etwas Neues aus. Andauernd zu Flackern wurde bestimmt irgendwann langweilig. Dann wurde es heller.
Vielleicht explodierte sie gleich, wie ein Stern, der auf dem Weg zur Supernova zuerst ganz hell wird. Was wusste Nev schon über Laternen?
Dann zeichnete sich ein deutlicher Lichtkegel ab, der kurz darauf wieder verschwand.
Das machte Nev schließlich doch ein wenig misstrauisch. Laternen bewegen sich eigentlich nicht. Unten erklang ein sonderbares, metallenes Quietschen. Es war leise, aber durchdringend. Schließlich stoppte es so unerwartet wie es angefangen hatte.
Neugierig stand er auf und balancierte durch seine Unordnung hindurch zum Fenster.
Was er dort unten sah, zauberte ihm ein neugieriges Funkeln in die sonst häufig gelangweilten Augen. Endlich etwas Interessantes, dachte er. Er zog seinen Pullover an, verließ flüsterleise die Wohnung und huschte durchs Treppenhaus.
Kälte begrüßte ihn, als er durch die Haustür auf die Straße trat. In deren Mitte stand eine Tram.

Offensichtlich aus dem letzten Jahrhundert stammend hatte sie einen großen runden Scheinwerfer, der wohl zuvor sein Zimmer beleuchtet hatte. Jetzt glühte er nur noch dimm und hinter den Scheiben war es dunkel und menschenleer. Nev schaute sich um. Niemand sonst hatte die Tram bemerkt, um die Uhrzeit schliefen wohl die meisten Menschen.
Viel interessanter als das Fehlen von Passagieren war das Fehlen von Schienen. Wie war die Tram hierher gelangt?
Er legte einen Hebel um und tatsächlich ließ sich eine der Wagontüren per Hand öffnen. Er trat in die Finsternis. Mit Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, sah er sich um. Holzbänke füllten den Raum und kleine Plakate waren über den Fenstern befestigt. Er setzte sich und sein Blick ging weiter zur Decke des Wagons. Dann zuckte er zusammen, als völlig ohne Vorwarnung die Wagenbeleuchtung aufflammte.
Rötliches Licht beschien nun das alte Holz und die Plakate, die Nev nun als Werbung für ihm unbekannte Cafés und andere Dinge erkannte.
Dann erklang dicht hinter ihm eine Stimme: „Ah, endlich tauchst du auf. Hast du alles?“ und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort, „Dann kann es ja losgehen!“
Die von Nev mühsam geöffnete Tür flog zu und mit einem gewaltigen Ruck schoss die Tram los, sodass es Nev in die Bank drückte.
Er traute nicht, sich umzudrehen. Die Stimme hatte seltsam metallen geklungen. Starr vor Schreck schaute er geradeaus und wartete ab, was geschehen würde. Der Wagon ruckelte, doch er blieb stumm sitzen, während draußen die Nacht an den Fenstern vorbeiflog. Er mochte außergewöhnliche Dinge, doch gerade wurde es ihm zu unheimlich. Er versuchte, im Fenster eine Spiegelung der Person hinter ihm zu erspähen, doch ohne Erfolg. Dann hielt er es nicht mehr aus und wandte sich um und sah – Niemanden.
„Hallo?“ fragte er in den leeren Wagon. „Ja, bitte?“, kam die prompte Antwort. Nev staunte. Die Stimme war aus dem kleinen Ticketentwerter gekommen, der hinter ihm an der Wand hing.
„Ticketentwerter können nicht reden!“ sagte er perplex, in erster Linie, um sich selbst davon zu überzeugen. Der Ticketentwerter überlegte kurz, dann erwiderte er: „Doch, können wir.“
Damit hatte er zweifelsohne recht. Nev betrachte ihn und wurde das Gefühl nicht los, dass der Kasten zurückschaute.
„Es freut mich sehr, Sie willkommen heißen zu dürfen“, sagte der Kasten nach einer Weile. Nev nickte höflich.
Dann schaute er aus dem Fenster. „Wohin fahren wir?“
Ein paar bunte Lichter an dem Kasten blinkten kurz. Dann ratterte es und er spuckte einen kleinen bedruckten Zettel aus. Nev hob in auf und blickte auf eine Liste mit sonderbaren Namen. „Das sind Orte, an denen wir halten“, erklärte der Kasten bereitwillig.
Nev las den Zettel erneut. Keinen der Namen hatte er je zuvor gehört. Als er aufschauen wollte blieb sein Blick an der Armbanduhr hängen. Sie zeigte drei Uhr nachts an und erst jetzt bemerkte sein Körper, wie müde er längst war. Er gähnte und trat näher an die Scheibe. Draußen war es viel zu dunkel, um etwas zu erkennen, nicht einmal Sterne konnte er entdecken.
„Träume ich das alles oder gibt es eine Erklärung dafür, dass ich in einer Bahn ohne Schienen sitze und mit einem Ticketentwerter rede?“, fragte Nev und setzte sich auf die ungemütliche Holzbank. Im Augenwinkel sah er den Kasten blinken und hörte ihn schließlich sagen: „Keines von beiden. Du träumst nicht, aber es gibt auch keine Erklärung“.
„Zumindest keine, die du verstehen würdest“, fügte er noch hinzu. Dann schlief Nev ein, während die Bahn durch tiefes Schwarz ruckelte. Fortsetzung folgt.