Rudi Rauf und seine Bande waren gefürchtet. Sie beherrschten die ganze Umgebung um Little Oak.

Gefährlich waren sie nicht, aber die Bewohner der Stadt fürchteten sich trotzdem. Aus Anstand. Sie hielten große Stücke auf Respekt und Höflichkeit.
Rudi Raufs Bande bestand aus sieben unzurechnungsfähigen Mitgliedern. Der Einfachheit halber hatte keines der Mitglieder einen Namen. Stattdessen hatte Rudi sie durchnummeriert: Der absolut dümmste von ihnen war Nr. 1, der verhältnismäßig klügste Nr. 7.
Jetzt fällt Sonne auf ihr Hauptquartier. Nachmittagssonne. Drinnen sitzen Nr. 1 bis Nr. 7 auf bunten Holzstühlen. Rudi läuft nachdenklich im Kreis.
Sie haben es mit einem ungewöhnlichen Feind zu tun: Der Langeweile.
Für gewöhnlich haben sie alle Hände voll damit zu tun, sich mit Oberhauptmann Kummel herum zu schlagen. Doch der tritt nur in die Arena, wenn sie etwas anstellten. Nun hatten sie aber nichts angestellt, und wussten auch nicht was anstellen könnten.
„Wir müssen etwas ausrauben“, sagte Rudi. Nr. 1-7 nickten.
Das taten sie immer dann, wenn sie keine Worte im Kopf hatten. Wiegesagt, immer.
„Das heißt“, fuhr Rudi fachmännisch fort, „wir brauchen einen Laden zum Ausrauben.“
Nr. 1-7 nickten, diesmal jedoch mit einem Hauch von Sachverstand. Das war ihre Art der Kommunikation. Sie mischten ein wenig Emotion oder Verständnis in ihre Körpersprache.
Das führt zu einer gewaltigen Ausdrucksvielfalt, die beinahe an das einer Elchkuh reicht.
Rudi sprach weiter: „Den Fachhandel an der McOak street haben wir schon ausgeraubt. So oft, dass er mittlerweile sicher leer ist.“
Nr. 1-7 nickten nachdenklich.
„Das große Spielwarengeschäft am Lotsof Place haben wir auch ausgeräumt.“
Nr. 1-7 nickten freudig.
„Auch die Eisdiele, den Elektrohandel in der Wattstreet und die Bank in der Bloomstreet. Sogar in die Postfiliale und den Schreibwarenladen sind wir eingebrochen.“
Nr. 1-3 und 5-7 nickten analphabetisch.
Wie Detektiven sicher aufgefallen ist, nickte Nr.4 nicht. Das war auch den anderen aufgefallen, die ihn nun überrascht anschauten.
Schwere und besonders komplizierte Gedanken wurden mit Schubkarren durch seinen Kopf geschoben. Eine der Schubkarren hatte einen Platten, zwei andere kippten auf dem Weg zum Ziel einfach um.
Die anderen sahen ihm eine Weile beim Denken zu.
Urplötzlich stand er auf. Mit großen Schritten trat er vor den großen Stadtplan an der Wand.
Er war ein Souvenir und erinnerte an den Tag, an dem sie das Rathaus hatten klauen wollen. Damals hatte es sich als zu schwer herausgestellt, als Trostpreis für ihren tapferen Versuch hatte ihnen der Bürgermeister besagten Stadtplan überreicht.
Der Finger von Nr. 4 tippte kraftvoll auf einen kleinen Punkt in der Straßenmitte. Er schaute die anderen an und nickte erwartungsvoll. Rudi begriff: „Natürlich! Wir rauben den Marktpatz aus!“
Aufgeregt hüpfte er hin und her, zupfte sich am Bart. Die Augen von Nr. 1-7 folgten ihm gebannt. Schließlich stemmte er die Hände in die Hüften: „Ich habe einen perfekten Plan!“
Zwei ganze Tage und Nächte schlugen sie sich um die Ohren. Dazu tranken sie eine bedenkliche Menge Kaffee.
Jeden einzelnen Schritt waren sie durchgegangen, Rudi Rauf selbst war undercover am Marktplatz gewesen, um die Stände auszukundschaften.
Der Tag des Überfalls kündigte sich bereits um 5 Uhr morgens mit seichten Sonnenstrahlen an. Im Licht der Morgendämmerung verließen sie ihr abgelegenes Hauptquartier und stapften durch hohes Gras in Richtung der Stadt.
Bei sich trugen sie selbstgebastelte Steinschleudern und Walnüsse als Munition. Zum Schutz dienten große Topfdeckel. Zur Tarnung dienten 7 schwarze Mützen mit Löchern zum Durchschauen. Rudi, als Anführer, trug eine rote.
Im Schatten der Häuser und Hinterhöfe schlichen sie durch die Vorstadt. Um punkt sieben war jeder von ihnen auf seinem Posten, jeder mit Blick auf den Marktplatz.
Jetzt galt es, abzuwarten. Aus Büschen und Müllcontainern heraus beobachteten sie, wir die ersten Händler Obst, Gemüse, Käse, Fleisch und sonstiges auf ihren Ständen ausbreiteten.
Es war ein großer Markplatz.
Rudi hatte es sich auf einem niedrigen Vordach bequem gemacht. Von dort aus sah er auf das Treiben hinab. Die ersten Marktbesucher erschienen. Dann sah er plötzlich etwas, was ihm ganz und gar nicht gefiel: Oberhauptmann Kummel. In voller Montur. Aufmerksam umherblickend.
Er musste etwas gewittert haben.
Doch es war zu spät, um die anderen zu warnen. Die Kirchturmuhr stand auf wenige Minuten vor 8 – das Läuten der Glocken auf 8 Uhr war das vereinbarte Zeichen. Ihm blieb nichts übrig, als still in seinem Versteck zu bleiben.
Dann erklangen helle Glocken und fast im gleichen Augenblick stürmten 7 Gestalten auf den Marktplatz. „Überfall!“ riefen sie dem erschrockenen Marktbesuchern entgegen. Auch Rudi war das Regenrohr hinab gerutscht und stürmte auf die Stände zu. „Bleiben sie schön brav und ihnen passiert nichts!“ verkündete er laut. Dann brach Panik aus. Die Leute liefen wild umher, manche verkrochen sich hinter Obstkörben und Lieferwagen.
Im Getummel der umherlaufenden Leute schnappten sich Nr. 1-7 Beutel und Körbe und begannen, sie mit Diebesgut zu füllen. Rudi hingegen versuchte in dem Durcheinander Oberhauptmann Kummel zu erspähen, er hatte längst mit seinem Auftritt gerechnet. Seine scheinbare Abwesenheit bereitete ihm Unruhe. Dann ertönten ein Pfiff und ein Schrei.
Alles erstarrte in seiner Bewegung und suchte den Ursprung des Geräuschs. Dann sahen sie ihn: Mitten auf dem Platz stand Oberhauptmann Kummel mit seiner silbernen Trillerpfeife und einem Schlagstock in der Hand. Dann sahen sie auch, wo der Schrei herkam: Ein kleiner, aber kräftiger Hund hatte Nr. 4 am Bein gepackt und schleifte den hilflosen Räuber über den staubigen Boden.
„Meine Damen und Herren, bleiben sie ruhig! Ich bin der Dorfpolizist und rette sowohl Sie, als auch die Situation. Ich bitte die Räuber, augenblicklich mit erhobenen Händen vorzutreten.“
„Niemals!“, ertönte da die Stimme von Rudi Rauf. „Wir sind Rudi Rauf und seine gefürchtete Bande! Du bist allein und wir zu acht. Alle fürchten uns!“
„Zumindest tun sie so“, fügte er etwas kleinlaut hinzu.
„Aber ihr fürchtet euch vor Oberwachtmeister Pfote!“, sagte Oberhauptmann Kummel und deutete auf den Hund.
„Da hat er Recht. Ich hab Angst vor Oberwachtmeister Pfote.“, meldete sich Nr. 4 zu Wort.
„Still!“ befahl Rudi. „Wir sind furchtlos!“
Doch er maß Pfote mit einem vorsichtigen Blick. Der Hund schien wirklich außergewöhnlich kräftig zu sein. Und völlig unkontrollierbar, wie sich im nächsten Moment zeigte: „Nein, aus! Aus! Ich bin dein Vorgesetzter!“
Pfote hatte das Interesse an Nr. 4 verloren und nach Kummels Bein geschnappt.
Vergeblich blies er in seine Trillerpfeife. Der Schlagstock kam nicht infrage, er durfte schließlich keinen Angehörigen der Polizeiwache schlagen. Und dazu zählte Pfote als Oberwachtmeister.
Es dauerte einen Moment bis Rudis Bande begriff – dann machten sie sich wieder über die Stände her. „Das war einfacher als gedacht!“ rief Rudi dem verzweifelten Hauptmann hinterher, als dieser von Pfote ober das Pflaster geschleift wurde.
Dann wandte sich Rudi seiner Bande zu. Ihre Beutel und Körbe waren fast voll. „Lasst uns schleunigst verschwinden, bevor es sich der Hund anders überlegt“, wies Rudi sie an.
Das leuchtete den anderen ein und sie eilten sich, den verbleibenden Platz in den Taschen mit Käse und Kohl zu füllen. Dann merkte Rudi, dass ihn jemand antippte. Er drehte sich um, was sich als schwerer Fehler erwies. Fast so schwer, wie die Handtasche, die er mit unerwarteter Wucht ins Gesicht bekam.
„Autsch!“ rief er und fiel hinten über.
„Sowas ungezogenes! Sie gehören ja wohl eingesperrt! Wissen sie denn gar nicht, wie man sich auf dem Markt benimmt?“
Rudi sah auf: „Madame Bolone?“
Die Leute versammelten sich neugierig um sie herum und sahen auf Rudi hinab. Auch Nr. 1-7 hatten ihre Aufgabe vergessen und starrten dumm in der Gegend herum.
„Jawohl“, bestätigte Madame Bolone, „ich muss schon sagen: Ich bin sehr enttäuscht von ihnen. Ich schlage vor, sie und ihre Bande räumen jetzt die beinahe gestohlenen Sachen wieder fein säuberlich zurück auf die Stände. Und dann entschuldigen Sie sich anständig bei den Verkäufern und Besuchern.“
Rudi sah verwundert aus, doch dann fasste er sich erstaunlich schnell: „Wissen Sie, Madame Bolone, wir sind Räuber. Ich mache gerade meine Arbeit und ich hoffe doch sehr, dass Sie uns nicht dabei stören wollen? Das könnte nämlich sehr unangenehme Folgen für sie haben!“
Ein Raunen ging durch die Versammelten. Noch nie in der ganzen Geschichte von Little Oak hatte es jemand gewagt, Madame Bolone zu drohen. Noch nie. Sie war sehr vornehm.
Mit einem Satz sprang Rudi auf die Beine. „Auf geht’s, Nr. 1-7! Wir haben alles was wir brauchen, Rückzug!“
Sie gehorchten und schulterten die Körbe und Taschen. Doch dann erstarrten sie allesamt. Sogar Rudi schaute verblüfft. Madame bolone hatte – ja, tatsächlich – ein Schwert aus ihrer Handtasche gezogen. Das erklärte das ungewöhnliche Gewicht, jedoch nicht die Frage, wie es dort hineingepasst hatte.
„Hier rührt sich keiner.“, sprach sie und hob das glänzende Breitschwert.
„Doch“, sprach Rudi wie automatisch, „lauft!“
Das taten sie. Der Anblick von Madame Bolone mit erhobenem Schwert sorgte für die nötige Motivation, um schwer beladen wie sie waren über Marktstände und Kisten hinweg zu fliehen. Sie bogen in die nächste Straße und liefen so schnell sie konnten. Dann geschah etwas, dass sie dazu veranlasste fast so schnell abzubremsen wie sie losgesprintet waren: Aus einer Gasse trat Oberhauptmann Kummel. Seine Kleidung war etwas zerrissen und die Dienstmütze saß schief, doch mit einem triumphierenden Blick im Gesicht und einem Leckerli in der Hand sah er trotzdem bedrohlich aus. Zu seinen Füßen hechelte Pfote untergeben.
„Jetzt gehorcht er mir“, verkündete Kummel schadenfroh. Sie wichen zurück, doch im nächsten Augenblick wurden Stimmen hinter ihnen laut. Rudi ahnte Unangenehmes.
Und seine Ahnung hatte Recht.
Um die Ecke hinter ihnen bog Madame Bolone, samt Handtasche und Schwert. Hinter ihr folgten die wütenden Händler des Marktes, mit Wurfkürbissen bewaffnet.
Das gefährliche an Wurfkürbissen ist, dass sie zum einen nicht Waffenscheinpflichtig sind und zum anderen ein großes Maß an Zerstörung anrichten können. Ein Verbot von Wurfkürbissen konnte dennoch nie durchgesetzt werden. Niemand war nämlich in der Lage, einen klaren Unterschied zwischen normalen Kürbissen und Wurfkürbissen auszumachen.
Langsam kam die Menge näher. Nr. 1-7 gerieten in Panik, während Rudi hektisch einen Fluchtplan überlegte. Doch die Situation schien aussichtslos: Sie waren zwischen Oberhauptmann Kummel samt Pfote und Madame Bolone mit Schwert eingekesselt.
Doch dann kam ihm der rettende Gedanke. Blitzschnell zog er aus einer der Taschen eine beachtliche Salami und rief: „Pfote, hierher!“
Es funktionierte.
Der Hund gehorchte und kam näher.
„Fang“, rief Rudi und zur Verblüffung aller schleuderte er die Salami mitten in die Menger der Händler und Marktbesucher. Wie eine Kanonenkugel schoss Pfote der Salami hinterher und prallte gegen die erschrockene Madame Bolone. Rudi und seine Bande nutzten die Schocksekunde und liefen an Oberhauptmann Kummel vorbei. Gerade rechtzeitig bogen sie um eine Ecke, als dicht hinter ihnen ein Wurfkürbis durch die Luft flog.
Doch sie hatten Vorsprung. Sie liefen und liefen, zurück durch die Vorstadt auf die umliegenden Felder zu. Dann endlich erreichten sie ein Maisfeld, in dem sie sich erschöpft verstecken konnten.
„Wir haben sie abgehängt“, brachte Rudi zwischen zwei Atemzügen heraus.
Nr. 1-7 nickten aus der Puste.
„Ich schlage vor“, fuhr Rudi nach einer Weile fort, „dass wir in Zukunft unsere Mitmenschen besser einschätzen. Ich glaube, Oberhauptmann Kummel ist ab heute nicht mehr unser größtes Problem. Wir müssen lernen, mit vornehmen Damen zurecht zu kommen.“